Undercover
nichts. Im Klartext: Sie verkauft gestohlene Ware, ja?«
»Und dann?«
»Bin ihr eine Zeitlang gefolgt. Sie hat so einen Woodstock-VW-Bus mit Gardinen in den Fenstern, wahrscheinlich schläft sie sogar in dem Ding. Wir hatten den Mystic River noch nicht überquert, als ich das Gefühl bekam, ich würde verfolgt. Von einem Transporter, vielleicht einem, den ich vorher bei Bimbo gesehen hatte. Ich hab mich so schnell wie möglich verpisst, bin nach Charlestown runter.«
»Sie wollen sagen, der kühne Reporter hat die Jagd aufgegeben?«
»Diese Kupferdiebe in Chelsea - soll das ein Witz sein?«, sagt Cal. »Wenn man sich mit denen anlegt, endet man mit durchgeschnittener Kehle in irgendeinem Kofferraum.«
7. Kapitel
Ein Sergeant führt Win in einen engen, nasskalten, spärlich beleuchteten Raum. Darin sind nichts als alte stählerne Aktenschränke und Regale voll verstaubter Dienstbücher und Kartons. Das Archiv der Polizei von Watertown ist der ehemalige Tresorraum einer Bank und liegt eine Etage unter dem Gefängnis.
»Ich nehme mal an, es gibt keine Aufstellung darüber, was hier archiviert ist«, sagt Win.
»Oh, tut mir leid. Die Bibliothekarin ist heute leider krank, und ihre zehn Assistentinnen sind in Urlaub. Wenn Sie finden, was Sie suchen, holen Sie sich die Akte raus. Keine Fotokopien. Keine Fotos. Sie können sich Notizen machen. Das ist alles.«
Die Luft ist erfüllt von Staub und dem Geruch nach Schimmel. Sofort merkt Win, dass seine Nasenschleimhäute anschwellen.
»Wie wäre es, wenn Sie mir irgendwo oben einen Platz zuweisen, wenn ich gefunden habe, was ich suche. Vielleicht bei der Kripo«, sagt Win. »Ein Vernehmungszimmer würde mir reichen.«
»O je, noch mehr schlechte Nachrichten. Die UN sind in der Stadt, unser Konferenzraum ist leider belegt. Die Akten bleiben hier drin. Wenn Sie sich etwas anschauen wollen, dann hier.«
»Ist das das einzige Licht?«
Neonröhren unter der Decke, eine kaputt, die andere verliert auch schon den Lebenswillen.
»Ob Sie’s glauben oder nicht, aber alle Mitarbeiter der Hausverwaltung sind im Streik.« Der Sergeant verschwindet mit seinem großen Schlüsselbund.
Win schaltet seine Taschenlampe ein und lässt den Lichtstrahl über die Regale mit Dienstbüchern wandern, die aus vielen Jahrzehnten stammen, bis zurück in die Zwanziger. Nein, so geht es nicht. Ohne Fotokopien zu machen, wird er sich niemals durch diese Berichte arbeiten können, das wäre so, als würde er sich ohne eine Machete durch den Urwald schlagen. Unter normalen Umständen, wenn er viel Zeit hat, gelingt es ihm, sich durch Blätter voller Informationen zu kämpfen, aber besser ist es eigentlich, wenn er so »beschäftigt« ist, dass eine der Angestellten ihm alles laut vorliest und er es als Audiodatei auf seinen Computer abspeichert. Es ist erstaunlich, wie viel er verarbeitet, wenn er Auto fährt, im Fitness-Studio trainiert oder joggt. Wenn Win sich schließlich zum Gericht begibt, kennt er jedes sachdienliche Detail auswendig.
Er steigt auf eine Trittleiter, zieht das Dienstbuch von 1962 hervor, sucht einen Platz zum Lesen, findet eine offene Schublade, legt das Dienstbuch darauf und blättert es durch, muss niesen, seine Augen brennen, furchtbar. Der 4. April, er entdeckt den handschriftlichen Eintrag über den Mord an Janie Brolin. Win notiert sich den Ort des Verbrechens - also ihre Adresse, da die Frau in ihrer Wohnung ermordet wurde -, und allein diese Tatsache ändert das gesamte Szenario völlig. Das versteht er nicht. Ist das denn niemandem aufgefallen? Der Boston Strangler in dieser Gegend? Das soll wohl ein Witz sein! Win durchsucht weitere Schubladen. Die Fälle sind nicht alphabetisch geordnet, sondern nach der Eingangsnummer, die jedes Jahr von vorn beginnt. Der gesuchte Fall hat die Nummer WT218-62. Win überfliegt die Beschriftungen der Schubladen und öffnet eine, die die richtige sein müsste. Die Akten darin sind so zusammengequetscht, dass er einen ganzen Stapel herausnehmen muss, um sie durchforsten zu können.
Er zieht den Brolin-Fall hervor und durchblättert Dutzende von Akten in derselben Schublade, da er vor langer Zeit festgestellt hat, dass Informationen von einer Akte durchaus selbständig in eine andere wandern. Nach einer Stunde Jucken, Niesen und Staub im Mund stößt er auf einen ganz hinten in der Lade verkeilten Umschlag, der die Nummer des Brolin-Falls trägt. Darin findet sich ein vergilbter Zeitungsartikel über einen
Weitere Kostenlose Bücher