Undercover
sechsundzwanzigjährigen Mann namens Lonnie Parris, der von einem Auto angefahren wurde, als er in der Nähe von Chicken Delight die Massachusetts Avenue in Cambridge überquerte. Ein Unfall mit Fahrerflucht, der sich in den frühen Morgenstunden des 5. April ereignete - der Tag nach dem Mord an Janie Brolin. Das ist alles. Nur ein alter Zeitungsausschnitt.
Warum hat ein Unfall mit Fahrerflucht dieselbe Nummer wie der Brolin-Fall? Win findet keine Akte über den Todesfall Lonnie Parris, wahrscheinlich weil er in Cambridge bearbeitet wurde. Frustriert greift er zu seinem iPhone, kommt aber nicht ins Internet, kann aus dieser Höhle hier unten nicht mal telefonieren. Er verlässt das Archiv, geht eine Treppe hinauf und findet sich in der Schleuse des Gefängnisses wieder. Kameras, Alkotestgerät, Spinde und an Stangen hängende Handschellen, mit denen sichergestellt wird, dass sich die Gefangenen auch benehmen, wenn sie darauf warten, dass man ihnen die Fingerabdrücke abnimmt oder Polizeifotos von ihnen macht.
Verdammt, hier gibt es auch keine Verbindung! Win geht hinter den Schreibtisch, will es über das Festnetz probieren, weiß aber die Vorwahl nach draußen nicht.
»Stump? Bist du das?«, erschreckt ihn eine laute Stimme.
Irgendein Insasse der Gewahrsamszellen. Eine Frau. Wird wahrscheinlich so lange festgehalten, bis sie in das Gefängnis im obersten Stock des Gerichts von Middlesex County verlegt werden kann.
»Es reicht jetzt, ja?« Dieselbe Stimme. »Bist du das?«
Win geht an leeren Zellen vorbei, die schweren Stahltüren weit geöffnet, nimmt einen schwachen Ammoniakgeruch von Urin wahr. Die Tür der vierten Zelle ist geschlossen, darauf klebt ein Zettel mit dem Kürzel Q5+, der Code für Selbstmordgefahr.
»Stump?«
»Ich kann Stump für Sie holen«, sagt Win und späht durch das kleine Gitterfenster. Er traut seinen Augen nicht.
Raggedy Ann sitzt im Schneidersitz auf einem Feldbett in einer Zelle aus Löschbeton, nicht viel größer als eine Abstellkammer.
»Wie geht’s?«, fragt er. »Brauchen Sie etwas?«
»Wo ist Stump? Ich will mit Stump sprechen!«
An der Wand im Gang hängt ein Fernsprecher für die Gefangenen. Man kann direkt nach draußen wählen, gegenüber auf der Fensterbank steht eine Flasche Desinfektionsmittel.
»Ich hab Hunger!«, sagt Raggedy Ann.
»Wieso wurden Sie hier eingebuchtet?«
»Geronimo«, sagt sie. »Ich kenn dich, Mann.«
Jetzt hört er ihren Akzent, und ihm fällt wieder ein, was Farouk über die »Schnalle« sagte. Eine Weiße, die wie eine Schwarze spreche.
»Sie kennen mich? Woher? Abgesehen davon, dass wir uns hin und wieder über den Weg laufen«, sagt er relativ freundlich.
»Hab keinen Bock, mit dir zu reden. Verschwinde, ja?«
»Ich kann Ihnen etwas zu essen besorgen, wenn Sie wollen«, sagt Win.
»Cheeseburger, Pommes und Cola light«, sagt sie. »Nachtisch?«, fragt Win. »Esse nichts Süßes.«
Zitronenlimonade, Cola light - klar, nichts Süßes. Ziemlich ungewöhnlich für einen Junkie, denkt Win. Die meisten ehemaligen Fixer können gar nicht genug Zucker bekommen. Etwas Gutes hat das Gitterfenster wenigstens: Er kann die Frau beobachten, ohne dass es groß auffällt. Dieselben weiten Klamotten, die sie auf dem Schrottplatz trug. Die Schnürsenkel sind noch in den Turnschuhen. Ungewöhnlich bei einem Selbstmordkandidaten. Sicherlich gibt es in der Zelle keinen Handtuchhalter, keine Stangen vor dem Fenster, nicht einmal Griffe an dem Spülbecken aus rostfreiem Stahl. Nichts, um das man einen Gürtel, Schnürsenkel oder selbst Kleidungsstücke winden könnte, wenn man sich aufhängen wollte.
Ohne die verrückte Lumpenpuppen-Aufmachung sieht die Frau eher wie ein Straßenkind aus, das vielleicht sogar recht hübsch wäre, würden die wilden roten Locken nicht in alle Richtungen abstehen und würde sie nicht so ein nervöses Gehabe an den Tag legen. Nestelt an den Fingern herum. Befeuchtet die Lippen. Was auch immer er über sie gehört hat, sie tut ihm leid. Win ist überzeugt, dass Menschen nicht mit der Zielsetzung aufwachsen, eine drogenabhängige Prostituierte oder eine Obdachlose zu werden, die sich aus Mülleimern ernährt. Die meisten gequälten Seelen, die wie Raggedy Ann enden, haben ihre Laufbahn mit einer genetischen Prädisposition, mit einem Missbrauch oder beidem begonnen, und die daraus resultierenden Probleme sind die Hölle auf Erden.
Win greift zum Hörer des roten Wandtelefons, wischt mit dem Desinfektionsmittel darüber
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