Underground: Ein Jack-Reacher-Roman (German Edition)
Polizeirevier nachgerannt. Verknittertes graues T-Shirt, rote Jogginghose, nach allen Seiten abstehendes graues Haar. Der Angehörige. Der Bruder. Der Kleinstadtcop aus New Jersey. Er holte mich ein, packte mit eisernem Griff meinen Ellbogen und sagte, er habe mich drinnen gesehen und vermute, ich sei der Zeuge. Dann erklärte er mir, sie habe nicht Selbstmord verübt.
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Ich nahm den Kerl in einen Coffeeshop in der Eighth Avenue mit. Vor langer Zeit war ich zu einem eintägigen MP -Seminar in Fort Rucker geschickt worden, um Sensibilität im Umgang mit Hinterbliebenen zu lernen. MP s mussten Angehörigen manchmal Todesnachrichten überbringen. Meine Fähigkeiten auf diesem Gebiet galten allgemein als unzulänglich. Ich ging einfach hin und erzählte den Leuten, was passiert war. Für mich entsprach das dem Wesen einer Nachricht. Aber das war offenbar falsch, weswegen man mich nach Rucker schickte. Dort lernte ich nützliche Dinge. Ich lernte, die Gefühle anderer ernst zu nehmen. Vor allem lernte ich, dass Cafés, Schnellrestaurants und Coffeeshops gute Orte für schlimme Nachrichten sind. Ihre Betriebsamkeit vermindert die Gefahr, dass jemand durchdreht, und der Vorgang des Bestellens, Wartens und Trinkens unterbricht den Informationsfluss auf eine Weise, die es erleichtert, das Mitgeteilte aufzunehmen.
Wir saßen beide einem Wandspiegel gegenüber. Auch das ist nützlich. Man kann einander im Spiegel betrachten. Von Angesicht zu Angesicht, aber ohne wirkliche Konfrontation. Der Coffeeshop war ungefähr halb voll. Cops vom Revier, Taxifahrer auf dem Weg zu ihren Garagen auf der West Side. Wir bestellten Kaffee. Ich wollte auch frühstücken, aber das würde ich nicht tun, wenn er nichts aß. Nicht respektvoll. Er sagte, er habe keinen Hunger. Ich saß still da und wartete. Lasst erst sie reden, hatten die Psychologen in Fort Rucker gesagt.
Er erzählte mir, er heiße Jacob Mark. Zu Lebzeiten seines Großvaters noch Markakis – damals, als ein griechischer Name niemandem nützte, außer man arbeitete in der Lebensmittelbranche, was sein Großvater nicht tat. Sein Großvater war in der Baubranche, daher die Namensänderung. Er meinte, ich könne ihn Jake nennen. Ich sagte, er könne mich Reacher nennen. Er erzählte mir, er sei ein Cop. Ich erzählte ihm, ich sei beim Militär gewesen. Er sagte, er sei ledig und lebe allein. Ich sagte, das treffe auch auf mich zu. Gemeinsamkeiten betonen, hatten die Dozenten in Rucker uns gepredigt. Aus der Nähe betrachtet und ungeachtet seiner etwas seltsamen Aufmachung war er ein anständiger Kerl. Unter der Abgebrühtheit eines jeden Cops verbarg sich ein gewöhnlicher Kleinstädter. Bei anderer Berufsberatung hätte er auch Physiklehrer, Zahnarzt oder Ersatzteilverkäufer werden können. Er war Mitte vierzig und schon sehr grau, aber sein Gesicht wies kaum Falten auf. Seine Augen waren dunkel und geweitet und blickten starr, aber das würde sich wieder geben. Als er vor einigen Stunden ins Bett gegangen war, musste er ein gut aussehender Mann gewesen sein. Ich mochte ihn auf den ersten Blick und bemitleidete ihn wegen seines Verlusts.
Er atmete tief durch, dann erzählte er mir, seine Schwester heiße Susan Mark. Früher einmal Susan Molina, aber seit vielen Jahren geschieden und zu ihrem alten Namen zurückgekehrt. Jetzt allein lebend. Er sprach in der Gegenwartsform von ihr. Er war noch weit davon entfernt, seinen Verlust zu akzeptieren.
Er sagte: »Sie kann nicht Selbstmord verübt haben. Das ist einfach unmöglich!«
Ich sagte: »Jake, ich war dabei.«
Die Bedienung brachte unseren Kaffee, und wir tranken ihn schweigend. Ich ließ etwas Zeit vergehen, damit die Realität ein wenig tiefer einsickern konnte. Die Psychologen in Rucker hatten es deutlich ausgedrückt: Die plötzlich zu Hinterbliebenen Gewordenen haben den IQ von Schäferhunden. Derb ausgedrückt, weil sie bei der Army, aber zutreffend, weil sie Psychologen waren.
Jake sagte: »Erzählen Sie mir also, was passiert ist.«
Ich fragte ihn: »Woher kommen Sie?«
Er nannte eine Kleinstadt im Norden New Jerseys – deutlich zum Großraum New York gehörend, voller Pendler und Fußballmütter, wohlhabend, sicher, zufrieden. Er sagte, die dortige Polizei sei finanziell und materiell gut ausgestattet, aber insgesamt unterfordert. Ich fragte ihn, ob sie ein Exemplar der israelischen Liste besitze. Er sagte, nach dem Anschlag auf die Twin Towers seien alle Polizeistationen des Landes mit Papier überflutet
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