Underground: Ein Jack-Reacher-Roman (German Edition)
scheinbar endlos lange schweigend da, bis das Telefon auf Sansoms Schreibtisch klingelte. Der Anruf kam von seiner Sekretärin. Ich konnte ihre Stimme aus dem Telefonhörer und durch die Tür hören. Sie rasselte eine Liste von Dingen herunter, die dringend erledigt werden mussten. Sansom legte auf und erklärte: »Ich muss gehen. Ich rufe einen Pagen, der Sie hinunterbringt.« Er stand auf, kam um den Schreibtisch herum und verließ den Raum. Wie ein Unschuldiger, der nichts zu verbergen hat. Ließ mich bei offener Tür allein im Sessel sitzend zurück. Auch Springfield konnte ich nirgends entdecken. Im Vorzimmer war außer der jungen Frau am Schreibtisch niemand zu sehen. Sie lächelte mir zu. Ich erwiderte ihr Lächeln. Page ließ sich keiner blicken.
Wir waren immer ahnungslos, hatte Sansom gesagt. Ich wartete eine Minute lang, dann begann ich, im Sessel hin und her zu rutschen, als wäre ich ruhelos. Dann stand ich auf. Wie ein Unschuldiger, der nichts zu verbergen hat und sich in einem fremden Revier langweilt, stapfte ich mit auf den Rücken gelegten Händen durch den Raum. Ich hielt auf die Wand hinter dem Schreibtisch zu, als wäre das ein rein zufälliges Ziel. Ich studierte die Fotos. Ich zählte die Gesichter, die ich kannte. Im ersten Anlauf kam ich auf vierundzwanzig. Vier Präsidenten, neun weitere Politiker, fünf Spitzensportler, zwei Schauspieler, Donald Rumsfeld, Saddam Hussein, Elspeth und Springfield.
Und noch jemand.
Ich kannte ein fünfundzwanzigstes Gesicht.
Auf allen Fotos von Sansom als Wahlsieger stand gleich neben ihm ein Mann, der ebenso breit grinste, als genösse er das Gefühl, gute Arbeit geleistet zu haben, und beanspruchte nicht übermäßig bescheiden seinen Anteil an diesem Sieg. Ein Stratege. Ein Taktiker. Eine graue Eminenz. Ein Strippenzieher im Hintergrund.
Vermutlich Sansoms Stabschef.
Er war ungefähr in meinem Alter und auf allen Fotos von Konfetti bedeckt oder von Luftschlangen umringelt, oder er stand in Ballons und grinste wie ein Idiot, doch sein Blick wirkte kalt. In seinen Augen lag eine listige, berechnende Schlauheit.
Sie erinnerten mich an die eines Baseballspielers.
Jetzt wusste ich, wozu das Täuschungsmanöver mit der Cafeteria gedient hatte.
Ich wusste, wer vor mir in Sansoms Besuchersessel Platz genommen hatte.
Wir waren immer ahnungslos.
Lügner.
Ich kannte Sansoms Stabschef.
Ich hatte ihn schon einmal gesehen.
Ich hatte ihn gesehen, als er in Chinos und einem Golfhemd spätnachts im 6 Train durch New York gefahren war.
40
Ich sah mir die Fotos mit Berühmtheiten sehr genau an. Der Mann aus der U-Bahn war auf allen zu erkennen. Verschiedene Blickwinkel, verschiedene Jahre, verschiedene Siege, aber eindeutig derselbe Kerl, buchstäblich Sansoms rechte Hand. Dann kam ein Page hereingehastet, und zwei Minuten später stand ich wieder auf dem Gehsteig der Independence Avenue. Vierzehn Minuten später wartete ich in der Union Station auf den nächsten Zug zurück nach New York. Achtundfünfzig Minuten später verließ ich, bequem darin sitzend, die Hauptstadt und betrachtete durch mein Fenster die trostlosen Gleisanlagen. Weit links von mir arbeitete ein Trupp Männer mit Schutzhelmen und orangeroten Warnwesten an einem Gleisabschnitt. Ihre Westen leuchteten durch den Smog. Das Kunststoffgewebe musste winzige reflektierende Glasperlen enthalten. Sicherheit durch Chemie. Die Westen waren mehr als gut sichtbar. Sie erregten geradezu Aufmerksamkeit, zogen Blicke an. Ich beobachtete die Kerle bei der Arbeit, bis sie nur noch winzige orangerote Punkte waren und zuletzt außer Sicht kamen – nach mehr als einem Kilometer. In diesem Augenblick hatte ich alles, was ich jemals bekommen würde. Ich wusste alles, was ich jemals wissen würde. Aber mir war nicht klar, was ich wusste. Damals noch nicht.
Der Zug fuhr in die Penn Station ein, und ich ging zu einem späten Abendessen in den Schnellimbiss direkt gegenüber, in dem ich schon gefrühstückt hatte. Dann machte ich mich auf den Weg zum 14. Polizeirevier in der West 35th Street. Die Nachtschicht war längst im Dienst. Theresa Lee und ihr Partner Docherty saßen an ihrem Platz. Im Bereitschaftsraum herrschte eine Stille, als wäre alle Luft herausgesaugt worden. Als hätte es schlechte Nachrichten gegeben. Aber niemand lief herum. Also mussten die schlechten Nachrichten von anderswoher stammen.
Die Polizeibeamtin am Empfang hatte mich schon mal gesehen. Sie drehte sich um und schaute zu Lee
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