Underground: Ein Jack-Reacher-Roman (German Edition)
Lage zu begreifen. Seine Schultern sanken herab, und er sagte seufzend: »Scheußlich, wenn man so auffliegt, was? Orden sollen Belohnungen sein, keine Strafen. Sie sollen einen nicht ruinieren. Sie sollen einem nicht ein Leben lang wie die verdammte Eisenkugel eines Sträflings am Bein hängen.«
Ich sagte nichts.
Er fragte: »Was haben Sie jetzt vor?«
Ich sagte: »Nichts.«
»Wirklich?«
»Was im Jahr 1983 passiert ist, interessiert mich nicht. Und die beiden haben mich belogen. Erst wegen Berlin, und auch jetzt lügen sie weiter. Sie behaupten, Mutter und Tochter zu sein. Aber das nehme ich ihnen nicht ab. Die angebliche Tochter ist bildschön, die angebliche Mutter ein potthässlicher Trampel. Ich habe die beiden gemeinsam mit einer New Yorker Kriminalbeamtin kennengelernt. Sie hat gesagt, in dreißig Jahren sehe die Tochter genau wie die Mutter aus. Aber das stimmt nicht. Sie wird niemals aussehen wie die Alte. Nicht in einer Million Jahren.«
»Wer sind sie also?«
»Ich könnte mir vorstellen, dass die Ältere echt ist. Eine ehemalige Politkommissarin der Roten Armee, die Ehemann und Bruder in Afghanistan verloren hat.«
»Ihren Bruder?«
»Den Beobachter.«
»Aber die jüngere Frau posiert?«
Ich nickte. »Als die im Londoner Exil lebende Witwe eines russischen Milliardärs. Sie behauptet, ihr Mann sei ein Unternehmer gewesen, der es nicht ganz geschafft habe.«
»Und sie wirkt nicht überzeugend?«
»Sie kleidet sich entsprechend. Sie spielt ihre Rolle gut. Vielleicht hat sie wirklich irgendwann ihren Mann verloren.«
»Aber? Was ist sie tatsächlich?«
»Ich halte sie für eine Journalistin.«
»Weshalb?«
»Sie weiß sehr viel, sie ist neugierig, voller Forscherdrang und besitzt einen analytisch scharfen Verstand. Sie liest regelmäßig die Herald Tribune und ist eine verdammt gute Erzählerin. Aber sie redet zu viel. Sie ist in Wörter verliebt und schmückt Einzelheiten gern aus. Dagegen ist sie machtlos.«
»Zum Beispiel?«
»Sie wollte etwas Pathos reinbringen. Also hat sie’s so hingestellt, als hätten die Politkommissare sich die Schützengräben mit den Rotarmisten geteilt. Sie hat behauptet, auf felsigem Boden unter einem Soldatenmantel gezeugt worden zu sein. Was Unsinn ist. Die Kommissare waren als Etappenhengste berüchtigt. Sie sind weit vom Schuss geblieben. Sie haben sich im Hauptquartier zusammengerottet und Broschüren verfasst. Manchmal haben sie die Front besucht, aber nie, wenn irgendwo Gefahr drohte.«
»Und das wissen Sie woher?«
»Sie wissen, woher ich das weiß. Wir haben damit gerechnet, in Europa einen Landkrieg gegen sie führen zu müssen. Wir haben zu siegen erwartet. Wir haben damit gerechnet, Millionen von Gefangenen zu machen. Die Militärpolizei ist dafür ausgebildet worden, sie einzeln zu befragen. Die 110th sollte dieses Unternehmen leiten. Vielleicht eine Wahnidee, aber das Pentagon hat sie sehr ernst genommen. Wir haben mehr über die Rote Armee gelernt als über die US Army. Vor allem wussten wir genau, wie Politkommissare aufzuspüren waren. Wir hatten Befehl, sie alle sofort zu erschießen.«
»Was für eine Art Journalistin?«
»Vermutlich beim Fernsehen. Die hiesige Crew, die sie engagiert hat, hatte Verbindungen zur Fernsehbranche. Und haben Sie schon mal osteuropäische Fernsehsendungen gesehen? Alle werden von Frauen moderiert, die sensationell aussehen.«
»Welches Land?«
»Ukraine.«
»Welche Zielsetzung?«
»Investigativ, historisch, mit einem Touch ins Menschliche. Die Jüngere dürfte die Geschichte der Älteren gehört und beschlossen haben, sich dranzuhängen.«
»Wie der History Channel auf Russisch?«
»Ukrainisch«, korrigierte ich ihn.
»Wozu? Was ist die Message? Wollen sie uns in Verlegenheit bringen? Nach über fünfundzwanzig Jahren?«
»Nein, ich glaube, dass sie die Russen in Verlegenheit bringen wollen. Zwischen Russland und der Ukraine gibt es im Augenblick starke Spannungen. Sie halten Amerika selbstverständlich für böse, denke ich, und sagen nun, das große böse Moskau hätte arme, hilflose Ukrainer nicht in Gefahr bringen dürfen.«
»Wieso kennen wir die Story nicht?«
»Weil sie altmodisch sind«, erklärte ich. »Sie versuchen, eine Bestätigung dafür zu bekommen. Dort drüben scheint es noch gewisse journalistische Skrupel zu geben.«
»Werden sie eine bekommen?«
»Vermutlich nicht von mir. Und niemand weiß wirklich Bescheid. Susan Mark hat nicht lange genug gelebt, um Ja oder Nein zu
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