Underground
zurückgegangen.«
»Und warum sind Sie in den Bahnhof gegangen?«
Ich seufzte. Die ganze Situation war höchst unangenehm. Ich wollte mich nicht allzu weit von der Wahrheit entfernen, Solis aber auch nicht alles erzählen. »Ich musste meinen Freund treffen. Wir wollten eigentlich zusammen zu Mittag essen. Also habe ich ihm erklärt, dass ich auf Sie warten muss. Ihm gefiel das Ganze nicht, und er wollte mit auf die Gleise. Das wollte ich aber nicht, weil ihn der Anblick des Armes sicher ziemlich aus der Fassung
gebracht hätte. Also traf ich ihn im Bahnhof. Er ist nach einigen Minuten wieder gegangen, und ich bin dann wieder hierher zurückgekehrt.«
Ich warf einen Blick auf den Arm. Der Mann, den Solis mit der Sicherung des Tatorts beauftragt hatte, war damit beschäftigt, auf dem Kies kleine Markierungen zu verteilen und seine Kamera in Position zu bringen. Ich wandte mich wieder dem Kommissar zu.
Er runzelte die Stirn. »Und Sie haben den Arm nicht angerührt?«
»Nein. Ich wollte noch im Tunnel nachsehen, aber als dann plötzlich die Krähen auftauchten, hielt ich es für das Beste, hier auf Sie zu warten.«
»Was ist denn im Tunnel?«, hakte Solis nach.
Ich zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung. Aber ich dachte mir, dass der Arm ja von irgendwoher kommen muss und er keine weite Strecke zurückgelegt haben kann. Sonst wäre er doch viel zerfetzter. Ich könnte mir vorstellen, dass ihn die Räder des Zuges im Tunnel erwischt haben. Der ist ja etwa eineinhalb Kilometer lang, weshalb ich vermute, dass der Arm irgendwo da drin zwischen die Räder geraten sein muss. Hat denn jemand vom Bahnpersonal einen Unfall erwähnt, den es im Tunnel gegeben hat?«
»Ich weiß von nichts. Ihr Bericht ist der erste, den wir bekommen haben.« Solis blickte in die dunkle Öffnung des Tunnels. Dann musterte er den Kies und die Gleise. Auf den großen Kiessteinen gab es nirgendwo Fußabdrücke, und das Eis war auch noch nicht so stark entwickelt, als dass es irgendwelche Fasern oder Blutspuren festgehalten hätte. Hier draußen fanden sich sicher keine brauchbaren Beweise.
Solis musste also in den Tunnel, wenn er irgendwelche Spuren finden wollte. Ich bezweifelte zwar, dass sich dort viel entdecken ließ, aber zumindest bestand eine kleine Chance, dass die Polizei etwas fand. So wie ich sie kannte, war der Druck recht groß, den Fall so schnell wie möglich abzuschließen – vor allem sobald klar war, dass es sich bei dem Opfer um keinen Steuerzahler handelte. Falls der Mann jedoch vermisst wurde, würde die Situation natürlich eine völlig andere sein.
Der Kommissar warf mir einen Blick zu und seufzte. »Die letzte Zeit war wirklich anstrengend. Irgendwie scheinen die Menschen ebenso durchzudrehen wie das Wetter. Ehrlich gesagt, habe ich schon so genug zu tun, ohne mich jetzt auch noch mit so etwas herumschlagen zu müssen.« Er schüttelte den Kopf. »Sie können gehen, Ms. Blaine. Ich weiß ja, wo ich Sie finde. Oder haben Sie mir noch irgendetwas zu sagen, was ich wissen sollte?«
Ich unterdrückte das Bedürfnis, eine flapsige Bemerkung zu machen, und schüttelte ebenfalls den Kopf. »Nein. Ich will jetzt nur noch ins Warme. Allmählich bin ich nämlich ziemlich eingefroren.«
Er sah mich ein wenig verstimmt an und nickte mir dann zu. Fast tat es mir leid, Solis und seine Leute in der Kälte zurücklassen zu müssen, während ich mich in die Wärme flüchten konnte. Zumindest war ich mir sicher, dass er meinen Hinweis verstanden hatte und im Tunnel nachsehen würde. Er war ein gründlicher Detektiv mit einer guten Spürnase. Ich war jedenfalls froh, nicht noch einmal in das dunkle Loch zu müssen, um mir die neuen Verletzungen anzuschauen, die der Zug dem Leichnam zugefügt hatte.
Diesmal ging ich nicht die Treppe hinauf, sondern lief
direkt durch die Bahnhofshalle zur King Street Station. In gebührender Entfernung drehte ich mich um und warf einen Blick zum Tunnel zurück. Solis stand vor der dunklen Öffnung, die in den Hügel hineinführte. Er unterhielt sich gerade mit einem der Bahnwärter, und selbst aus dieser Entfernung konnte ich die roten Blitze sehen, die im Grau von den Männern ausgingen. Allerdings hätte ich nicht sagen können, welcher der beiden diese Angst- oder Wutschwingungen verursachte. Detective Solis war gewöhnlich ein ruhiger, zurückhaltender Mann. Aber ich hatte zuvor schon einmal seine leuchtend orangefarbene Frustration im Grau bemerkt. Das Rot passte jedoch nicht so recht zu ihm.
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