Underground
leicht, mich zu entschuldigen, was Will bestimmt auffiel. Ich klang irgendwie unnatürlich.
Seine besorgte Miene verschwand natürlich nicht. »Willst du mir damit sagen, dass du doch keine Zeit zum Mittagessen hast?«
Ich holte tief Luft. »Ich muss leider auf die Polizei warten.«
Er blinzelte mich überrascht an. »Wie bitte? Was ist passiert?«
»Das kann ich dir nicht sagen. Ich muss zuerst mit der Polizei sprechen. Am besten rufe ich dich an, wenn alles erledigt ist, und dann könnten wir zum Beispiel gemeinsam zu Abend essen.«
»Ich könnte doch auch zusammen mit dir warten«, schlug er vor.
»Nein …« Ich hielt inne. Wenn ich ihm direkt sagte, dass ich ihn nicht um mich haben wollte, würde er vermutlich beleidigt sein. »Es kann ziemlich lange dauern. Wahrscheinlich ist die ganze Sache auch nicht gerade angenehm, und ich weiß doch, dass dir diese Art von Arbeit nicht gefällt. Es wäre mir lieber, wenn du deinen Tag nicht damit verschwendest, auf mich zu warten.«
»Und wie lange wird diese geheimnisvolle Sache dauern?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht geht es ja schnell, aber das kann ich noch nicht sagen.«
Will seufzte. Vermutlich fühlte er sich an unser erstes Date erinnert, als ich ihn Hals über Kopf wegen eines mysteriösen Auftrags einfach allein im Lokal zurückgelassen
hatte. Ich wusste, dass er sich wieder einmal ärgerte, und das wiederum ärgerte mich.
»Dein Beruf ist wirklich …«
Nun war es an mir, laut zu seufzen. »Ja … Ich weiß. Es wäre dir viel lieber, wenn ich mein Geld mit etwas anderem verdienen würde.«
»Nein, so stimmt das nicht. Es wäre mir bloß lieber …« Er hielt inne und schüttelte den Kopf. »Also zum Abendessen. Treffen wir uns zum Abendessen. Gerne.«
Sein »Gerne« wirkte mehr als aufgesetzt. Aber damit wollte ich mich jetzt nicht auseinandersetzen. In diesem Moment standen abgetrennte Gliedmaßen und graue Löcher in Betonwänden auf meiner Prioritätenliste deutlich weiter oben. Ich hatte keine Lust, mich mit Wills verletzter Eitelkeit und seinem Gefühl, von mir im Stich gelassen zu werden, zu beschäftigen. Diese ganze Beziehungskiste ging mir wirklich unsäglich auf die Nerven.
»Danke, Will.« Ich schlang die Arme um ihn und gab ihm einen Kuss, bevor er sich abwenden konnte. »Du wirst es nicht bereuen. Versprochen.« Ich hatte das Gefühl, ein Stück Eis zu küssen, das gerade etwas auftaute. Als ich ihn losließ, ging er davon, allerdings nicht ohne mir vorher noch ein schwaches Lächeln zu schenken. Ich sackte ein wenig in mich zusammen. Mir stiegen die Tränen in die Augen.
Innerlich tadelte ich mich für diesen Moment der Schwäche: »Sei nicht so sentimental.« Nach einem Augenblick fing ich mich wieder und eilte zum Tunnel zurück.
Quinton hockte in der Nähe des Arms, schaute aber bewusst in eine andere Richtung. Er wirkte angespannt, und das Grau hatte sich wie eine Wolke aus schwefelgelbem Dunst um ihn herum gesammelt. Seine Miene war mehr als besorgt, als er mir entgegenblickte.
»Und?«, fragte er und richtete sich auf.
»Ich werde auf jeden Fall die Polizei rufen müssen. Aber wenn du mir erklären kannst, was hier los ist, kann ich deinen Namen vielleicht heraushalten. Weshalb willst du nicht, dass die Cops von dir wissen? Und in welcher Verbindung stehst du zu dem Toten?«
Er holte mehrmals tief Luft, bevor er etwas sagte. Die Anspannung, die seinen Körper ergriffen hatte, schien etwas nachzulassen. »Ich kenne ihn … Das heißt, ich habe ihn gekannt. Hier unten ist es seit dem Sturm und dem Kälteeinbruch schon zu mehreren Todesfällen gekommen. Es waren immer Obdachlose – Leute, die wie dieser Typ hier im Untergrund gelebt haben. Und ich kenne sie, weil ich auch einer von ihnen bin. Einer, der im Untergrund lebt. Ich bin sozusagen freiwillig obdachlos.«
»Bist du auf der Flucht?« Auf einmal fragte ich mich, mit wem ich es eigentlich zu tun hatte.
»In gewisser Weise. Ich bin quasi aus moralischen Gründen auf der Flucht. Bestimmten Leuten bin ich schon lange ein Dorn im Auge, und ich möchte nicht von ihnen gefunden werden. Gleichzeitig will ich aber auch nicht länger zusehen, wie die Obdachlosen reihenweise sterben. In letzter Zeit gab es zu viele Tote in den Gassen, Kanälen und in den Tunneln. Ich will zwar unerkannt bleiben, aber nicht um jeden Preis. Die meisten Todesfälle wurden als Unfälle deklariert. Es hat sich natürlich sowieso nur um irgendwelche Alkoholiker und Verrückte gehandelt, die
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