Unearthly. Dunkle Flammen (German Edition)
Stimme.
Christian.
Mir fällt fast das Handy aus der Hand.
«Oh, hallo. Ich hab deine Nummer nicht erkannt. Und wie geht es dir so? Genießt du den Sommer? Wie ist New York?» Ich stelle zu viele Fragen auf einmal.
«Langweilig ist es gewesen. Aber jetzt bin ich wieder da.»
«Schon?»
«Na ja, es ist August. Bald fängt die Schule wieder an, weißt du. Dieses Jahr will ich so richtig loslegen. Meinen Abschluss machen und so.»
«Aha», sage ich und versuche zu lachen.
«Also, wie gesagt, ich bin wieder da, und ich hab den ganzen Sommer an dich gedacht, und jetzt möchte ich dich für morgen Abend zum Essen einladen. Eine richtige Verabredung, falls du das nicht gemerkt haben solltest», sagt er mit einem Tonfall, der leichthin klingen soll, aber so viele ernste Untertöne hat, dass es mir scheint, als würde plötzlich die Luft aus dem Raum gesogen. Ich schaue auf und sehe, wie Mama und Jeffrey mich anstarren.
Er wartet darauf, dass ich sage: Ja, o ja, ich würde gern mit dir essen gehen, wann kannst du mich abholen, ich kann es kaum erwarten , aber ich sage gar nichts. Was soll ich denn sagen? Tut mir leid, ich weiß, es hat so ausgesehen, als wäre ich vor kurzem noch total verrückt nach dir gewesen, aber das ist jetzt vorbei? Ich habe inzwischen einen Freund? Weggegangen, Platz vergangen?
«Bist du noch dran?», fragt er.
«Ja, klar. Tut mir leid.»
«Okay …»
«Morgen Abend kann ich nicht», sage ich schnell und leise, aber ich weiß, dass Mama mich gehört hat. Sie hat sehr feine Ohren.
«Oh.» Christian klingt überrascht. «Ist gut. Wie wäre es dann mit Samstag?»
«Ich weiß nicht. Ich rufe dich zurück, ja?», sage ich und drücke mich damit feige um eine unmissverständliche Antwort.
«Ja, klar», meint Christian und versucht, so zu tun, als wäre es keine große Sache, aber wir alle, er und Mama und Jeffrey und ich, wissen, dass es sehr wohl eine sehr, sehr große Sache ist. «Du hast ja meine Nummer.» Dann brummelt er schnell einen Abschiedsgruß und legt auf.
Ich klappe das Handy zu. Eine Minute lang herrscht ein unangenehmes Schweigen. Mama und Jeffrey haben nahezu den gleichen Gesichtsausdruck. Sie gucken, als wäre ich von allen guten Geistern verlassen.
«Wieso hast du ihm abgesagt?», fragt Mama. Die Eine-Million-Dollar-Frage, die eine Frage, die ich so gern nicht beantworten würde.
«Ich hab doch gar nicht abgesagt. Ich kann nur einfach morgen nicht.»
«Wieso nicht?»
«Ich hab schon was vor. Ich hab auch noch ein Leben, weißt du.»
Sie sieht aus, als ob sie wirklich wütend ist. «Ja, und was könnte im Moment in deinem Leben wichtiger sein als Christian?»
«Ich gehe mit Tucker aus.» Die ganze letzte Zeit habe ich ihr gesagt, dass ich mit Leuten aus der Schule unterwegs bin, und sie hat mir geglaubt. Sie hatte nie Grund, mir nicht zu glauben. Und sie war viel zu gestresst und mit ihrer Arbeit beschäftigt, um darauf zu achten.
«Dann sag ab», meint sie.
Ich schüttele den Kopf und sage «Nein», um zu zeigen, dass sie mich missverstanden hat. Ich sehe sie an. «Ich bin mit Tucker zusammen.»
«Du machst wohl Witze», würgt Jeffrey hervor, und ich weiß, dass er das nicht sagt, weil er Tucker etwa nicht mag, sondern nur, weil keiner in meiner Familie sich vorstellen kann, dass ich an irgendjemandem außer Christian interessiert sein könnte. Er ist schließlich der Grund dafür, dass wir alle hierhergekommen sind.
«Nein. Tucker ist mein Freund.» Ich liebe ihn , will ich sagen, aber ich weiß, dass es das Maß des Erträglichen übersteigen würde.
Mama legt ihre Gabel weg.
«Tut mir leid, dass ich das nicht schon früher gesagt habe», erkläre ich verlegen. «Ich dachte … ach, ich weiß auch nicht, was ich dachte. Ich meine, ich werde Christian natürlich trotzdem retten, genau wie in meiner Vision.»
Beziehungsweise gar nicht genau wie in der Vision, denke ich, denn Händchenhalten und das Berühren von Wangen und das ganze kitschige Zeug wird es nicht geben. Aber retten werde ich ihn. So habe ich es beschlossen. «Ich habe weiter mit dem Fliegen trainiert. Ich werde tatsächlich stärker, wie du gesagt hast. Ich glaube, ich werde ihn tragen können.»
«Woher willst du wissen, dass es deine Aufgabe ist, Christian zu retten ?»
«Das weiß ich, weil ich in meiner Vision mit ihm aus dem Feuer wegfliege. So was nennt man retten, oder?»
«Und das ist alles?»
Ich wende mich von ihrem wissenden Blick ab. Wir gehören zusammen . Wie eine
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