Unearthly. Dunkle Flammen (German Edition)
Glasscherbe steckt dieser Gedanke seit der letzten Vision in meinem Kopf. Wieder und wieder habe ich darüber nachgedacht, habe nach einer Möglichkeit gesucht, die mir gezeigt hätte, dass ich die Bedeutung dieser Erkenntnis falsch interpretiert habe. Ich will nicht in Christian Prescott verliebt sein. Nicht mehr.
«Keine Ahnung», sage ich. «Aber ich werde auf jeden Fall da sein. Ich werde ihn retten.»
«Das ist keine x-beliebige Besorgung, die du zu erledigen hast, Clara», sagt meine Mutter leise. «Das ist deine Aufgabe auf Erden. Und die Zeit drängt. Gestern gab es schon Waldbrandalarm in Teton County. Du musst dich auf deine Mission konzentrieren. Du darfst dich jetzt nicht ablenken lassen. Wir sprechen hier von deinem Leben.»
«Ja», sage ich und hebe das Kinn eine Winzigkeit. «Ganz recht. Von meinem Leben.»
Das habe ich in letzter Zeit ziemlich oft gesagt.
Ihr Gesicht ist blass, ihre Augen sind wie versteinert, ohne Glanz. Einmal, an einem frühen Morgen, als wir noch klein waren, hatte Jeffrey auf der Terrasse hinterm Haus eine zusammengerollte Klapperschlange entdeckt, die in der Kälte ganz träge war. Mama ist in die Garage gegangen und mit einer Hacke zurückgekommen. Sie befahl uns zurückzutreten. Und dann hob sie die Hacke und trennte mit einem sauberen Schlag der Schlange den Kopf ab.
Jetzt hat sie genau den gleichen Gesichtsausdruck wie damals: stoisch und entschlossen. Es macht mir Angst.
«Mama, ist ja schon gut», wage ich mich vor.
«Es ist nicht gut», sagt sie sehr langsam. «Du hast Hausarrest.»
An dem Abend schleiche ich mich zum ersten Mal heimlich aus dem Haus. Es ist im Grunde ganz einfach. Ich schiebe das Fenster auf, klettere raus und balanciere kurz auf dem Rand des Dachs, ehe ich meine Flügel erscheinen lasse und flüchte. Aber mein ganzes Leben lang bin ich ein braves Mädchen gewesen. Ich habe meiner Mutter immer gehorcht. Ich bin nie von dem Pfad abgewichen, den sie mir gezeigt hat. Und dieser simple Akt der Rebellion macht mir das Herz so schwer, dass ich nur mit Mühe in die Luft komme.
Ich lande vor Tuckers Fenster. Er liegt ausgestreckt auf seinem Bett und liest einen Comic, X-Men, und ich muss lächeln. Sein Haar ist kürzer als gestern. Er muss zu Ehren unseres Ein-Monats-Jubiläums beim Friseur gewesen sein. Ganz leise klopfe ich an die Fensterscheibe. Er guckt hoch und grinst, weil er sich freut, mich zu sehen, und es versetzt mir einen Stich ins Herz. Ich bin froh, dass ich kein Engelblut mit Botenfunktion geworden bin. Wie schrecklich, der Überbringer von schlechten Nachrichten sein zu müssen.
Er legt den Comic unter sein Kopfkissen und kommt zum Fenster. Er muss sich anstrengen, um es zu öffnen. Es erfordert einige Muskelkraft, denn es ist heiß und feucht und das Fenster klemmt. Sein Blick wandert kurz zu meinen Flügeln, und ich sehe, dass er die instinktive Furcht unter Kontrolle bringen muss, die er jedes Mal empfindet, wenn er mit dem Beweis dafür konfrontiert wird, dass die Dinge auf dieser Welt nicht ganz so sind, wie sie scheinen. Er beugt sich raus und reicht mir die Hand. Ich stecke die Flügel weg und versuche zu lächeln.
Er zieht mich in sein Zimmer. «Hallo. Was ist los? Du wirkst … aufgebracht.»
Er führt mich zu seinem Bett, und ich setze mich. Dann nimmt er sich seinen Schreibtischstuhl und setzt sich mir gegenüber, sein Blick ist besorgt, aber fest, als ob er denkt, dass er alles ertragen kann, was ich ihm sagen werde. Ich kann mich auf ihn verlassen; das sagt sein Blick.
«Bist du okay?», fragt er.
«Ja. Einigermaßen.»
Ich habe keine andere Wahl, als es ihm zu sagen. «Eigentlich darf ich gar nicht hier sein. Ich habe Hausarrest.»
Er guckt verblüfft. «Für wie lange?»
«Keine Ahnung», antworte ich jämmerlich. «Meine Mutter hat sich nicht so genau geäußert. Endlos, denke ich.»
«Aber wieso? Was hast du angestellt?»
«Äh …» Wie soll ich erklären, dass es dazu gekommen ist, weil ich Christian Prescott abgesagt habe? Weil meine Mutter mich dafür bestraft, dass ich ihr nicht erzählt habe, dass ich mit Tucker zusammen bin? Wobei es ja nicht so ist, dass ich sie belogen habe. Ich habe es ihr nur einfach nicht erzählt, weil ich befürchtet habe, sie wäre dagegen. Aber doch nicht so sehr dagegen.
Offenbar spiegeln sich meine Gedanken in meinem Gesicht, denn Tucker sagt: «Es geht um mich, oder? Deine Mutter hat was gegen mich?»
Es ist schlimm für mich, die Kränkung in seiner Stimme
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