Unearthly. Dunkle Flammen (German Edition)
seinen Körper verdeckt. Bei all den Menschen, die in der geschäftigen Einkaufspassage aneinander vorbeihasten, hätte ich ihn vielleicht gar nicht bemerkt, hätte er uns nicht so intensiv gemustert.
«Angela», sage ich leise, und meine Brezel fällt auf den Boden. Eine Welle entsetzlicher Traurigkeit überfällt mich. Ich muss mich extrem zusammenreißen, um mich bei der plötzlichen Intensität des Gefühls nicht zusammenzukrümmen. Meine Hände verkrampfen sich zu Fäusten, meine Fingernägel graben sich mir schmerzhaft in die Handballen. Ich fange an zu weinen.
«Mensch, was ist denn los mit dir, C.?», fragt Angela besorgt. «Ehrenwort, ich werde von jetzt an brav sein.»
Ich will ihr antworten. Ich versuche verzweifelt, den Kummer zu durchdringen, um die Worte auszusprechen. Tränen strömen über mein Gesicht.
«Der Mann», flüstere ich.
Sie folgt meinem Blick. Dann zieht sie scharf die Luft ein und sieht weg.
«Los, komm», sagt sie. «Wir gehen deine Mutter suchen.»
Sie legt mir den Arm um die Schultern und steuert mich schnell die Einkaufspassage hinunter. Wir rempeln Leute an, bahnen uns den Weg durch Familien und Teenagergruppen. Angela sieht sich noch mal um.
«Folgt er uns?» Mehr als ein Flüstern will mir nicht gelingen. Ich fühle mich, als müsste ich in einem dunklen, eisigen Tümpel mühsam den Kopf über Wasser halten, ich spüre eine Eiseskälte in jedem Knochen, werde mit jedem Schritt, den ich mache, müder und kann mich kaum noch aufrecht halten. Am liebsten würde ich zu Boden sinken und diese Schwärze Besitz von mir ergreifen lassen.
«Ich sehe ihn nicht», sagt Angela.
Dann finden wir meine Mutter, und es kommt mir vor wie die Antwort auf ein Gebet. Sie und Wendy kommen gerade aus dem Payless-Laden , beide tragen Einkaufstüten.
«Hallo, ihr zwei», sagt Mama. Dann bemerkt sie den Ausdruck auf unseren Gesichtern. «Was ist passiert?»
«Wir müssen kurz mit Ihnen reden.» Angela packt meine Mutter am Arm und zieht sie von Wendy weg, die verwirrt und auch ein bisschen gekränkt aussieht, als wir uns von ihr entfernen. «Da ist ein Mann», flüstert Angela. «Er hat uns angestarrt, und Clara wurde … sie wurde …»
«Er ist so traurig», bringe ich heraus.
«Wo?», will Mama wissen.
«Hinter uns», sagt Angela. «Ich habe ihn aus den Augen verloren, aber er ist ganz sicher noch irgendwo da hinten.»
Meine Mutter zieht sich ihre Kapuze über den Kopf und macht den Reißverschluss ihrer Jacke zu. Sie geht zu Wendy zurück und versucht zu lächeln.
«Alles in Ordnung?», erkundigt sich Wendy.
«Clara fühlt sich nicht so gut», sagt Mama. «Wir sollten gehen.»
Das ist nicht mal gelogen. Ich kann kaum einen Fuß vor den anderen setzen, als wir schnell auf das Kaufhaus zugehen, wo wir das Auto geparkt haben
«Sieh dich nicht um», flüstert mir Mama ins Ohr. «Beweg dich, Clara. Heb die Füße.»
Hastig durchqueren wir die Kosmetik- und die Unterwäscheabteilung, laufen vorbei an der Abendmode, wo wir den Tag begonnen haben. Nur Augenblicke später sind wir auf dem Parkplatz. Als Mama unser Auto sieht, fängt sie an zu rennen und zieht mich hinter sich her.
«Was ist denn los?», fragt Wendy im Laufen.
«Steigt ins Auto», kommandiert Mama, und wir klettern eilig hinein.
In hoher Geschwindigkeit verlassen wir den Parkplatz. Erst als wir Idaho Falls ein paar Meilen hinter uns gelassen haben, löst sich die Traurigkeit allmählich auf, wie ein Vorhang, der sich hebt. Zitternd hole ich tief Luft.
«Bist du okay?», fragt Wendy, die immer noch mächtig verwirrt aussieht.
«Ich muss nur nach Hause.»
«Zu Hause hat sie was dagegen», wirft Angela ein. «Das ist eine Art Krankheit.»
«Eine Art Krankheit?», wiederholt Wendy. «Was denn für eine Krankheit?»
«Äh …»
Mama wirft Angela einen genervten Blick zu.
«Es ist eine seltene Form von Anämie», fährt Angela in aller Seelenruhe fort. «Deshalb wird ihr manchmal schlecht, und sie ist dann ganz wacklig auf den Beinen.»
Wendy nickt, als hätte sie verstanden. «Wie an dem Tag, als sie in der Schule in Ohnmacht gefallen ist.»
«Genau. Sie muss dann ihre Pillen nehmen.»
«Wieso hast du mir das denn nicht erzählt?», fragt Wendy. Sie sieht Angela an und dann wieder mich, als wollte sie eigentlich sagen: «Wieso hast du Angela davon erzählt, aber mir nicht?» Sie ist gekränkt.
«Es ist keine große Sache», erkläre ich. «Es geht mir schon viel besser.»
Angela und ich wechseln einen Blick. Vor
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