Unearthly. Dunkle Flammen (German Edition)
schließt sie die Augen. Die Schmetterlingsflügel lösen sich auf, werden zu einer diesigen Wolke, die über ihrem Kopf und ihren Schultern schwebt.
«Meinst du, ich kann das auch?» Ich stehe auf und bringe meine Flügel verlegen zum Erscheinen. Gegen meinen Willen bin ich auf einmal neidisch. Angela ist so viel stärker als ich. So viel klüger in allem. Sie hat eben doppelt so viel Engelblut.
«Keine Ahnung», sagt sie. «Ich habe den Eindruck, dass ich diese Fähigkeit, die Flügelform zu verändern, geerbt habe. Aber es wäre doch viel sinnvoller, wenn wir alle das könnten.»
Ich schließe die Augen.
«Schmetterling», flüstere ich.
Ich mache die Augen wieder auf. Immer noch Federn.
«Du musst deinen Kopf ganz frei machen», sagt Angela.
«Du hörst dich an wie Yoda, der weise alte Jedi-Meister.»
«Deinen Kopf frei machen du musst», sagt sie in bester Yoda-Manier und ahmt dabei dessen eigenwillige Satzstellung nach.
Sie hebt die Arme hoch über den Kopf und reckt sich. Ihre Flügel verschwinden.
«Das war total cool», bestätige ich ihr.
«Ich weiß.»
In dem Moment fällt eine weitere Fliege vorn auf mein T-Shirt, genau mittendrauf, und zwischen dem Gekreische und Gewedel, um sie abschütteln, und dem hysterischen Gelächter hinterher bin ich unglaublich dankbar dafür, eine Freundin wie Angela zu haben, die mich immer wieder daran erinnert, wie toll es ist, ein Engelblut zu sein, wenn ich mich nur wie eine Laune der Natur fühle. Eine Freundin, die mich Christian Prescott vergessen lässt, und sei es auch nur für eine Minute.
Christian sitzt auf der Treppe zur Veranda, als ich nach Hause komme. Das Licht der Lampe umgibt ihn mit einem sanften Schimmer wie ein Bühnenscheinwerfer. In der Hand hält er eine Tasse, und ich vermute darin den Himbeertee meiner Mutter. Sofort setzt er den Becher auf der Veranda ab. Er springt auf. Ich verspüre den brennenden Wunsch, wegzufliegen, wenn ich nur könnte.
«Es tut mir leid», sagt er ernst. «Ich war so blöd. Ich war so dumm. Ich war so ein Idiot.»
Ich muss schon zugeben, dass er hinreißend aussieht, wie er mit verträumtem Blick dasteht und mir erzählt, wie dumm er gewesen ist. Das ist einfach nicht fair.
Ich seufze.
«Wie lange sitzt du schon hier?», frage ich.
«Nicht so furchtbar lange», antwortet er. «So etwa drei Stunden.» Er deutet auf die Teetasse. «Bei dem großzügigen Nachschenken deiner Mutter hat es sich wie gerade mal zwei Stunden angefühlt.»
Ich zwinge mich dazu, nicht über seinen Witz zu lachen, dann stürme ich an ihm vorbei ins Haus, wo meine Mutter von der Couch aufspringt und sich, ohne ein Wort zu sagen, in ihr Arbeitszimmer zurückzieht. Wofür ich sehr dankbar bin.
«Komm rein», rufe ich ihm zu, denn es ist offensichtlich, dass er nicht die Absicht hat, in nächster Zeit zu verschwinden.
Er folgt mir in die Küche.
«Na schön», sage ich. «Wir machen das so. Wir reden kein Wort über den Abschlussball. Nie, nie wieder.»
In seinem Blick spiegelt sich Erleichterung. Ich nehme seine Tasse und stelle sie neben die Spüle. Einen Moment lang bleibe ich an die Arbeitsfläche gelehnt stehen, um mein Gleichgewicht wiederzufinden.
«Fangen wir einfach von vorn an», sage ich, noch mit dem Rücken zu ihm.
Das wäre schön, denke ich, einfach noch mal von vorn anzufangen. Keine Visionen, keine Erwartungen, keine Demütigungen. Nur ein Junge, der ein Mädchen kennenlernt. Nur er und ich.
«Okay.»
«Ich bin Clara.» Ich drehe mich zu ihm um und strecke ihm die Hand hin.
Sein Mundwinkel hebt sich zu einem nicht ganz offen gezeigten Lächeln. «Ich bin Christian», flüstert er, nimmt meine Hand und drückt sie sanft.
«Schön, dich kennenzulernen, Christian», sage ich, als wäre er ein ganz normaler Typ. Als ob ich meine Augen schließen könnte, ohne ihn in einem Waldbrand zu sehen. Als ob mich bei der Berührung seiner Hand nicht Sehnsucht und Erkenntnis durchströmten.
«Ganz meinerseits.»
Wir gehen wieder auf die Veranda. Dann mache ich noch mehr Tee, hole eine Decke für ihn und eine Decke für mich, und wir setzen uns auf die Stufen und betrachten den Himmel voller funkelnder Diamanten.
«So hell waren die Sterne in Kalifornien nie», sagt er.
Ich hatte gerade genau den gleichen Gedanken.
Als meine Mutter aus ihrem Arbeitszimmer kommt und uns höflich und, glaube ich, auch glücklich mitteilt, dass es spät ist und morgen ein ganz normaler Schultag und dass Christian lieber nach Hause fahren
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