Unearthly. Heiliges Feuer (German Edition)
mein Haar hindurch nicht höre.
Wieso kann ich nicht weinen?
Er zieht sich zurück. «Ich bin gleich gekommen, als ich es erfahren habe.»
Ich hätte Tucker normalerweise natürlich angerufen, gleich als es passiert war, aber er war in der Schule, und ich hatte nicht die Kraft, ihn herausrufen zu lassen, eine Fahrgelegenheit für ihn zu finden und so weiter. «Wissen alle in der Schule Bescheid?»
«So ziemlich alle. Geht es dir gut?»
Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll. «Ich habe geschlafen.»
Ich löse mich aus seinen Armen, gehe zum Bett und setze mich. Es ist schwer, ihn anzusehen, wenn er mir so durchdringend ins Gesicht starrt und versucht, meinem Blick zu begegnen. Ich zupfe an der Stickerei von meinem Quilt.
Tucker scheint nicht zu wissen, was er sagen soll. Er sieht sich in meinem Zimmer um. «Hier war ich noch nie», sagt er. «Es ist nett. Es passt zu dir.» Er räuspert sich. «Wendy ist unten. Wir haben dir eine Schokoladensahnetorte gebracht, mit vielen Grüßen von meiner Mutter. Und ein gegrilltes Hühnchen und irgendwelches Grünzeug.»
«Danke», sage ich.
«Es ist eine leckere Torte. Soll ich Wendy holen?»
«Noch nicht.» Ich traue mich schließlich, ihn anzusehen. «Könntest du mich … mich einfach halten, nur einen Moment lang?»
Er wirkt erleichtert. Endlich kann er etwas tun. Er setzt sich neben mich aufs Bett, und ich strecke mich aus. Wir legen uns in Löffelchenstellung, seine Hand ruht auf meiner Hüfte.
Ich fühle nichts. Ich denke nichts. Ich atme nur. Ein und aus. Ein und aus.
Tucker streicht mir übers Haar. Es liegt etwas so Zärtliches in der Geste. Genauso gut hätte er flüstern können: Ich liebe dich .
Ich liebe dich auch , sage ich in Gedanken zu ihm, auch wenn er es nicht hören kann.
Aber ich fühle keine Liebe. Ich sage es, weil ich weiß, dass es stimmen muss, aber ich fühle es nicht. Dazu bin ich viel zu sehr gelähmt. Ich verdiene seine Liebe nicht, denke ich. Sogar jetzt ist dieser Moment mit Christian auf dem Friedhof wie eine dunkle Wolke in meinen Gedanken.
Drei Tage vergehen. Auch das ist etwas, womit man nicht rechnet. Man denkt, Tod, dann Trauergottesdienst, dann Beerdigung und all das, und Ende und aus. Aber zwischen Tod und Trauergottesdienst gibt es eine Unmenge von Pflichten und kleinen Vorkommnissen, an die man gar nicht denkt. Den Nachruf schreiben. Die Blumen aussuchen. Aussuchen, was meine Mutter tragen soll, wenn sie im Sarg liegt, und was ich zu ihrem Begräbnis anziehen werde, was mich allerdings nicht viel Überlegungen kostet: schwarzes Kleid, Mamas Pumps, ihr silbernes Bettelarmband. Ich sage Jeffrey sogar, welche Krawatte er tragen soll, die silbergraue mit den Streifen, aber als ich ihm das sage, wirft er mir einen kalten Blick zu und antwortet, er werde eine schwarze Krawatte tragen.
Ich weiß nicht, was das zu bedeuten hat. Etwas Ähnliches ist schon einmal passiert, mit meiner lilafarbenen Cordjacke am Tag des Waldbrands. Kann das Gleichgewicht des Universums durch die Farbe einer Krawatte beeinflusst werden?
Am ersten Tag schwänzt Tucker die Schule, um bei mir zu sein. Das bedeutet im Grunde, dass er auf dem Stuhl neben mir sitzt, während ich dasitze und nichts tue, dass er versucht, mit mir ins Gespräch zu kommen, und mich gelegentlich fragt, ob ich etwas brauche, und fast immer sage ich Nein, außer später am Abend, als ich ihn bitte: «Kannst du nach Hause gehen? Sei nicht böse, aber ich möchte jetzt lieber allein sein.» Das stimmt. Ich will allein sein. Aber ich will speziell Tucker in diesem Moment nicht um mich haben, denn da gibt es Dinge, die ich ihm verschweige, wichtige Dinge, und über diese Dinge will ich jetzt nicht nachdenken.
Er sagt: Ja, natürlich, geht klar, er versteht, aber er ist gekränkt. Ich muss mein Einfühlungsvermögen gar nicht erst wachrufen, um die Kränkung in seinen Augen zu erkennen.
Jeden Tag spüre ich Christian irgendwo in der Nähe. Der nicht versucht, mit mir zu reden. Der mir nichts aufdrängt, keine Reaktion zeigt. Der einfach nur in der Nähe ist. Er lässt mich in Ruhe, aber er ist auch da, am Rande, für den Fall, dass ich einmal doch nicht in Ruhe gelassen werden möchte.
Wieso ist er dazu in der Lage? Er war doch noch so jung, als seine Mutter starb, aber er begreift trotzdem. Ich frage mich, ob es daran liegt, dass er sich so im Gleichklang mit mir befindet, dass er versteht, was ich brauche.
Am dritten Tag wird Tucker drängender, nicht irgendwie
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