Unearthly. Heiliges Feuer (German Edition)
und ich warte. Ich mustere ihre Hand, die in meiner liegt. Sie trägt ihren Ehering wieder, einen schlichten, schmalen Silberreif. Sie und ich, wir haben die gleichen Hände, fällt mir jetzt auf. Das habe ich vorher nie bemerkt. Ihre Hände wirken jetzt zerbrechlich, sind leicht wie die ausgehöhlten Knochen eines Vogels, doch die Ähnlichkeit mit meinen Händen ist da. Wir haben die gleichen langen Nagelbetten. Die gleiche Form der Knöchel, die gleiche Länge der Finger, die gleiche Ader über dem linken Handrücken.
Will ich meine Mutter wiedersehen, muss ich nur auf meine Hände schauen.
Dann holt sie tief und zittrig Luft und öffnet die Augen, und ich vergesse vollkommen, dass ich auf die Toilette muss.
Sie sieht Papa an. Er greift nach ihrer anderen Hand, die Hand, an die ich mich nicht klammere, als ginge es um mein Leben, und er küsst ihr Handgelenk.
Sie schaut sich um, ohne dabei den Kopf zu drehen, bewegt nur ihre großen blauen Augen, aber ich kann nicht sagen, ob sie irgendeinen von uns noch erkennt. Ihre Lippen bewegen sich.
«So schön», glaube ich sie sagen zu hören.
Dann bin ich einen Moment lang abgelenkt, weil Papa verschwindet. Direkt vor unseren Augen verschwindet er einfach. Den einen Moment sitzt er noch auf dem Bett und hält Mamas Hand, den nächsten Moment ist er weg.
Ich brauche einen Augenblick, um zu begreifen, dass Mama auch weg ist. Es ist so still, ich hätte es wissen müssen. Wir halten alle die Luft an. Mama lehnt in den Kissen, die Augen hat sie wieder geschlossen. Aber sie ist nicht mehr da. Ihr Brustkorb bewegt sich nicht. Ihr Herz hat aufgehört zu schlagen. Ihr Körper ist hier, aber sie ist verschwunden.
«Amen», sagt Billy.
Jeffrey springt auf. Das Geräusch von seinem Stuhl, der krachend gegen die Wand stößt, erscheint unerträglich laut. Sein Gesicht wirkt auf mich wie eine Maske, die Lippen verzerrt, die Augenbrauen tief über seine rot geränderten Augen gezogen. Eine einzelne Träne bahnt sich den Weg seine Wange hinunter, bleibt auf seinem Kinn liegen. Wütend wischt er sie weg und flüchtet aus dem Zimmer.
Ich höre die Haustür zuschlagen, als er geht. Dröhnend setzt sich sein Truck in Gang, prescht dann die Auffahrt hinunter, Kies spritzt zur Seite.
Etwas steigt in meiner Brust hoch, kein Laut, sondern ein entsetzlicher, erstickender Schmerz, der mir, so denke ich, das Herz zerreißen wird.
«Billy …», rufe ich verzweifelt.
Sie ist da. Ich spüre ihre Hand, die sich mir auf die Schulter legt.
«Einfach nur atmen, Clara. Nur atmen.»
Ich konzentriere mich darauf, die Luft in meine Lungen hinein- und dann wieder herauszubekommen. Ich weiß nicht, wie lange wir so dastehen, Billy neben mir, deren Finger sich in die Haut auf meiner Schulter graben. Es tut mir weh, aber es ist ein Schmerz, der sich gut anfühlt, der mich daran erinnert, dass ich, im Gegensatz zu meiner Mutter, immer noch meinen Körper bewohne.
Sekunden vergehen. Minuten. Stunden vielleicht. Es kommt mir so vor, als könnte ich Mamas Hand mit meiner Hand immer noch wärmen. Wenn ich sie jetzt wegnehme, wird sie kalt. Dann werde ich ihre Hand nie mehr halten.
Der Himmel draußen wird grau. Ein leichter Nieselregen fällt auf das Haus. Es fühlt sich angemessen an, dass es in einem Moment wie diesem regnet. Es fühlt sich richtig an.
Ich schaue zu Billy auf.
«Bist du das?» Ich neige den Kopf Richtung Fenster.
Sie lächelt und verzieht auf diese seltsame verletzte Art die Lippen. «Ja. Ich weiß, es ist so eine alberne menschliche Sichtweise, aber ich kann einfach nicht anders.»
«Ich will sie nicht loslassen.» Mir ist klar, das ist einer dieser Sätze, die mir auf ewig im Kopf herumspuken werden, genau wie der Klang meiner eigenen rauen, gebrochenen Stimme.
«Ich weiß, Kleines», sagt Billy und hört sich auf ihre eigene Weise rau an. «Aber du hältst sie jetzt gar nicht richtig. Du weißt, das ist nicht mehr sie.»
Nach der anfänglichen Stille klingelt dann das Telefon alle fünf Minuten, dann läutet es an der Tür, und es strömen immer mehr Leute herein. Anfangs fühle ich mich gezwungen, sie zu begrüßen, als sei es meine Pflicht als einziges Familienmitglied, das dageblieben ist, als Mamas Kind, sie hereinzulassen und ihnen persönlich für ihr großes Mitgefühl und das viele mitgebrachte Essen zu danken. Was die Sache mit dem Essen angeht, sollte man vorgewarnt werden. Immer wenn so etwas passiert, wenn ein geliebter Mensch stirbt, bringen die Leute etwas
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