Unearthly. Himmelsbrand (German Edition)
unauffällig. Wir ziehen in ein schöneres Hotel um, in dem wir ein Apartment mit Küche und Essbereich und mit einer Wohnecke haben, dazu noch zwei Schlafzimmer, sodass wir die Tür schließen und fernsehen können, wenn Web schläft. Es entwickelt sich eine Art Routine im Tagesablauf: Web wacht auf und fängt an zu schreien. Wir spielen Schere, Stein, Papier, um zu entscheiden, wer seine Windel wechseln muss. Wir versuchen, ihn dazu zu bringen, ein Fläschchen von der Säuglingsnahrung zu trinken. Wir probieren verschiedene Marken und verschiedene Flaschentypen aus, aber er würgt und spuckt und wirkt einfach nur angeätzt, weil Angela nirgends zu finden ist. Dann trinkt er schließlich ungefähr fünfzig Milliliter von dem Zeug. Wir haben Angst, dass das nicht genug ist. Wenn er gegessen hat, übergibt er sich. Er fängt wieder an zu weinen. Wir machen ihn sauber. Wir wiegen ihn, reden mit ihm, singen, drehen weißes Rauschen im Fernseher an, fahren mit dem Aufzug rauf und runter, nehmen ihn auf lange Spazierfahrten im Truck mit, schaukeln ihn, beruhigen ihn, flehen ihn an, aber er schreit Stunden um Stunden, meist mitten in der Nacht.
Ich bin sicher, die anderen Hotelgäste haben uns furchtbar gern.
Irgendwann schläft er wieder ein. Dann laufen wir auf Zehenspitzen herum, waschen uns, putzen uns die Zähne, essen auf die Schnelle, was der Kühlschrank an Resten noch hergibt – wir kennen bereits die Speisekarten aller Restaurants im Ort auswendig, die einen Lieferservice haben, was in Nebraska vor allem viele Steakhäuser sind. Ich wechsle den Verband von Christians Wunde, die sich hartnäckig zu heilen weigert. Ich versuche, den Glanz herbeizurufen. Ich schaffe es nicht. Wir reden über alles Mögliche, nur nicht über das, was in jener Nacht im Garter passiert ist, obwohl wir beide wissen, dass wir an nichts anderes denken können. Wie Zombies sitzen wir auf dem Sofa und sehen uns irgendwelche Shows im Fernsehen an, egal, welche. Und dann, allzu bald, immer wieder allzu bald, wacht Web auf, und wir fangen wieder von vorn an.
Allmählich verstehe ich, weshalb Angela so übellaunig war.
Trotzdem gibt es auch schöne Momente. Lustige Sachen passieren. Einmal zum Beispiel macht Web beim Windelwechseln Pipi auf Christians T-Shirt, mitten drauf auf das Coldplay-Logo, und Christian nickt bloß und fragt: «Und was willst du damit sagen, Web?» Wir lachen, bis wir Seitenstechen bekommen, und es tut gut, einfach mal so zu lachen. Das baut Spannung ab.
Am vierten Abend sitzen wir gerade auf dem Sofa, nachdem ich eine Stunde lang mit Web auf dem Arm durchs Apartment spaziert bin, während er mir direkt ins Ohr gebrüllt hat. Da nimmt Christian meine Füße auf den Schoß und fängt an, sie zu massieren. Ich verkneife mir das Lachen, denn ich bin so kitzlig, dann stöhne ich leise, denn es fühlt sich so gut an. Es ist so schön, dieses Gefühl, dass wir das hier gemeinsam durchstehen, dass wir Partner sind und es irgendwie zusammen schaffen werden.
«Ich glaube, ich bin gerade taub geworden», sage ich, der übliche Witz zwischen uns jedes Mal, wenn Web plötzlich mit dem Schreien aufhört und einschläft.
«Was hat Billy noch mal gesagt, wann sie anrufen will?», fragt Christian wieder einmal; ein weiterer Witz, den wir uns oft erzählen, und ich lache.
Aber irgendetwas in mir windet sich auf fast schmerzhafte Weise, weil sich das alles wie eine Szene aus dem Leben von anderen Leuten mit einem anderen Kind anfühlt, als ob wir hier weiter nichts tun würden, als Vater, Mutter, Kind und Familienleben zu spielen.
Christians Finger bleiben auf meinem Knöchel liegen. Er seufzt.
«Ich bin total erledigt.» Er steht auf und geht zur Tür des Schlafzimmers, in dem Web schläft. «Ich übernehme die erste Schicht. Gute Nacht, Clara.»
«Gute Nacht.»
Er geht ins Zimmer und schließt die Tür. Ich zappe eine Weile durch die Fernsehkanäle, aber es gibt nichts Gutes. Ich schalte den Fernseher aus. Es ist noch früh, neun Uhr, aber ich wasche mir das Gesicht und ziehe mich aus. Noch ein letztes Mal schaue ich nach Web. Dann lege ich mich hin.
Ich träume von Tucker. Wir sind auf seinem Boot, auf dem Jackson Lake, liegen uns auf einer Decke im Boot in den Armen, lassen uns von der Sonne bescheinen. So wie es damals eben war. Ich bin vollkommen ruhig, habe die Augen geschlossen, beinahe schlafe ich, aber nur beinahe. Ich presse das Gesicht an Tuckers Schulter und sauge mit meinem Atem seinen Duft ein. Er spielt mit
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