Unearthly. Himmelsbrand (German Edition)
eine SMS von Phen bekommen. Er hat sie gewarnt, hat ihr geschrieben, dass die Schwarzflügel kommen. Sie hatte nur eine einzige Minute, um Web zu verstecken, aber diese Minute hat Phen ihr geschenkt.»
Phen ist also doch nicht ganz so schlecht, das will Christian mir sagen. Aber irgendwie denke ich deshalb doch nicht viel besser über ihn. Denn schließlich war er derjenige, der sie überhaupt erst in diese schreckliche Lage gebracht hat.
«Na jedenfalls», meint Christian, «wollte ich dir das erzählen.»
Er hält mir das Tagebuch hin, ein Geschenk, aber ich will es nicht nehmen. Ich weiß nicht, wie ich mich bei der Lektüre ihres Tagebuchs fühlen würde, jetzt, da sie nicht mehr bei uns ist. Das sind ihre ganz persönlichen Gedanken.
«Ich lege es neben das Bett», sagt er. «Für den Fall, dass du es lesen willst.»
«Nein, danke», erwidere ich, obwohl ich neugierig geworden bin.
Wir machen mit dem Abwasch weiter, schweigend jetzt, beide sind wir in Gedanken versunken. Christian denkt über das Tagebuch nach, über etwas, was Angela geschrieben haben muss, etwas über Web und über Familie. Nach einer Weile fragt er: «Denkst du je an den Tag auf dem Friedhof?»
Er meint, ob ich je an den Kuss denke. Ob ich je über uns nachdenke.
Ich glaube, dieses Gespräch ist zu viel für mich. Jedenfalls jetzt im Moment. «Du bist doch der Gedankenleser. Sag du es mir», witzele ich verlegen.
Aber die Wahrheit ist: Ja, ich denke über uns nach. Wenn wir nebeneinander gehen und er ganz ungezwungen meine Hand nimmt. Wenn er mich beim Abendessen über den Tisch hinweg ansieht und über einen Witz lacht, den ich gemacht habe, und seine grüngoldenen Augen hell leuchten. Wenn ich auf dem Weg zum Badezimmer an ihm vorbeigehe, er mir aus dem Bad entgegenkommt, sein Haar noch nass vom Duschen ist, sein ärmelloses Shirt sich an seinen feuchten Körper schmiegt und der Geruch seines Rasiergels zu mir herüberweht. Ich denke daran, wie einfach es wäre, dieses Leben anzunehmen. Mit ihm zusammen zu sein.
Ich denke daran, wie es wäre, am Ende eines Abends mit ihm ins selbe Zimmer zu gehen. Das tue ich wirklich. Ich denke daran. Selbst wenn ich mir dabei wie ein schlechter Mensch vorkomme, weil er nicht der Einzige ist, an den ich auf diese Weise denke.
«Der ist schon sauber», meint er und nimmt mir sacht den Teller aus der Hand, den ich die ganze Zeit kraftvoll geschrubbt habe.
«Ich denke daran», sagt er einen Moment später.
Er wird es nicht auf sich beruhen lassen.
«Meinst du, du hast es aus dir getan?»
Er starrt mich an, meine Frage überrascht ihn. «Aus mir?»
«Na ja, mich zu küssen war schließlich Teil deiner Vision, also wusstest du, was passieren würde. Du hast gesagt: ‹Du wirst nicht gehen›, als ich wegwollte. Denn du wusstest, ich würde bleiben. Du wusstest, du würdest mich küssen, und ich würde es zulassen.»
Er schluckt. Dann senkt er den Kopf, eine Haarsträhne fällt ihm über die Augen, und er starrt ins Spülbecken, als gäbe es irgendeine mysteriöse Antwort im seifigen Abwaschwasser zu entdecken.
«Ja, ich habe dich in meiner Vision geküsst», sagt er schließlich. «Aber es war dann nicht so, wie ich erwartet hatte.»
«Was meinst du?»
«Ich dachte …» Da spüre ich seine Enttäuschung, seine Verlegenheit, seinen verletzten Stolz.
«Du dachtest, wenn wir uns küssen, wären wir zusammen», sage ich an seiner Stelle.
«Ja. Ich dachte, wir würden dann zusammen sein.» Er zuckt mit den Schultern. «War wohl nicht der richtige Zeitpunkt.»
Er wartet. Er wartet immer noch. Er hat für mich alles aufgegeben. Sein ganzes Leben. Seine Zukunft. Einfach alles, weil er mich beschützen will. Weil er, tief im Innern, glaubt, er sei meine Aufgabe und ich seine.
«Nur um das klarzustellen. Ich habe es ganz bewusst getan.» Er hängt das Geschirrtuch über den Griff vom Kühlschrank, dann kommt er näher zu mir. «Ich wollte dich küssen», sagt er leise. «Ich wollte es. Es war nicht wegen irgendeiner Vision, die ich hatte. Es war deinetwegen. Wegen dem, was ich fühle.»
Einen Moment lang hängen die Worte zwischen uns, dann beugt er sich vor, fährt mit dem Handrücken über meine Wange und küsst mich, sanft, nicht drängend. Lange belässt er seine Lippen auf meinen, streift sanft mit seinem Mund über meinen. Hitze steigt zwischen uns auf. Die Zeit verlangsamt sich. Ich sehe die Zukunft, die er sich vorstellt: immer zusammen, immer füreinander da. Wir sind Partner. Die
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