Unearthly. Himmelsbrand (German Edition)
ob sie etwas sagt, aber ich höre nichts, nur das Schlurfen von Füßen und das Rascheln der Kleidung der Menschen, die sich hier bewegen. In der Mitte des Kreises bleibt sie stehen, senkt ziemlich lange den Kopf, ihr Haar verdeckt ihr Gesicht, dann geht sie weiter, ganz langsam, die Arme locker an der Seite.
Mein Einfühlungsvermögen erwacht. Ich spüre sie alle, jeden Einzelnen dieser Leute dort in dem Kreis. Zu meiner Linken ist ein Mädchen, das großes Heimweh hat. Sie vermisst die Großstadt, die Wohnung ihrer Familie in Brooklyn in einem Haus ohne Fahrstuhl, ihre zwei kleinen Schwestern. Ein Typ, der in der Mitte stehen geblieben ist, wünscht sich verzweifelt, in seiner ersten Klausur in Integralrechnung die beste Zensur zu bekommen. Ein anderer denkt an eine Blondine in seinem Filmanalysekurs und fragt sich, was sie wohl von seinem Filmgeschmack hält, und dann fühlt er sich schuldig, weil er in einer Kirche an solche Dinge denkt. Ihre Gefühle und verschlungenen Gedanken sind wie Luftschwaden, die sich in der Stille dieses Ortes auf mich legen – heiß und kalt, Angst und Einsamkeit und Hoffnung und Glück –, aber ich spüre, dass es nachlässt, als würden die Gefühle, mit denen ihr Verstand beschäftigt ist, langsam in den Kreis hineingezogen, wie Wasser, das kreisend in einen Abfluss strömt.
Und über ihnen allen spüre ich Angela. Konzentriert. Voller Hingabe. Entschlossen. Mit der Beharrlichkeit eines Lenkflugkörpers die Wahrheit suchend.
Ich setze mich in die erste Reihe und warte, ich knie mich hin und schließe die Augen. Plötzlich kommt mir eine Erinnerung an Jeffrey in den Sinn; wir waren noch klein damals, und wir sind in die Kirche gegangen. Jeffrey schlief mitten in der Predigt ein. Mom und ich mussten uns zusammenreißen, nicht über ihn zu lachen, wie er so zusammengesackt dasaß. Aber dann fing er an zu schnarchen, und Mom stieß ihn in die Rippen, und er setzte sich ruckartig kerzengerade auf.
Was denn? , flüsterte er. Ich habe gebetet.
Bei dem Gedanken daran unterdrücke ich ein Lachen. Ich habe gebetet. Wunderbar.
Ich öffne die Augen. Jemand sitzt neben mir und zieht sich die Stiefel an, schwarze ausgetretene Stiefel mit ausgefransten Schnürsenkeln. Angela. Ich sehe sie an. Sie trägt ein ausgebeultes schwarzes Sweatshirt und lilafarbene Leggings, noch schmuddelig-lässiger als ihr sonst üblicher Grunge-Stil. Kein Make-up, nicht einmal das übliche Schwarz um die Augen. Sie hat den gleichen Gesichtsausdruck wie vergangenes Jahr, als sie herauszufinden versucht hat, auf welches College sie gehen sollte: eine Mischung aus Frustration und Vorfreude.
«Hi», sage ich, um das Gespräch zu eröffnen, aber sie bringt mich mit einer Geste zum Schweigen und bedeutet mir, ihr zu folgen. Ich gehe ihr hinterher, wir verlassen die Kirche, und ich bin dankbar für die frische Luft auf meinem Gesicht, die plötzliche Sonne, den leichten Wind, der die Palmwedel der Bäume am Rand des Innenhofes bewegt.
«Hast ja ganz schön lang hierhergebraucht», sagte Angela.
«Was ist das da in der Kirche?»
«Ein Labyrinth. So eine Art Labyrinth jedenfalls. Aus Vinyl, damit sie es zusammenrollen und an andere Orte bringen können. Es ist diesen riesigen Fußbodenlabyrinthen nachgebildet, die es in manchen europäischen Kirchen gibt. Die Absicht dahinter ist folgende: Das Gehen im Kreis befreit den Geist, und dann kann man beten.»
Ich sehe sie an und ziehe eine Augenbraue hoch.
«Ich habe an meine Aufgabe gedacht», sagt sie.
«Und klappt es? Hat dein Geist sich befreit?»
Sie zuckt mit den Schultern. «Anfangs dachte ich, es ist sinnlos, aber es ist mir in letzter Zeit schwergefallen, mich zu konzentrieren.» Sie räuspert sich. «Deshalb habe ich es versucht, und nach einer Weile stellte sich tatsächlich eine phantastische Klarheit ein. Unheimlich war das. Sie kommt klammheimlich einfach über dich. Dann habe ich herausgefunden, dass ich so die Vision herbeirufen kann.»
«Die Vision herbeirufen? Auf Kommando?»
Sie schnaubt verächtlich. «Natürlich auf Kommando.»
Kaum habe ich das gehört, möchte ich am liebsten sofort in die Kirche zurück und es selbst versuchen. Vielleicht würde ich dann mehr erfahren, als mir dieses bisschen Dunkelheit verrät. Vielleicht könnte ich herausfinden, was meine Vision bedeutet. Aber tief in mir erschauere ich auch bei der Vorstellung, mich freiwillig in diesen stockdunklen Raum zu begeben.
«Also. Weshalb ich dir die SMS geschickt habe»,
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