Unearthly. Himmelsbrand (German Edition)
Phase durchgemacht habe, in der ich Angst im Dunkeln hatte. Ich zog mir die Bettdecke immer bis zum Kinn und war fest davon überzeugt, dass jeder Schatten ein Ungeheuer wäre: ein Außerirdischer, der mich entführen wollte, ein Vampir, ein Geist, der mir jeden Moment seine eisige tote Hand auf den Arm legen würde. Ich hatte zu meiner Mutter gesagt, dass ich mit Licht schlafen wollte. Den Wunsch erfüllte sie mir dann, oder sie ließ mich bei sich im Bett schlafen, und ich fühlte mich sicher, wenn ich mich an ihren warmen, nach Vanille riechenden Körper kuschelte, bis die Angst nachließ, aber nach einer Weile sagte sie: «Jetzt ist es an der Zeit, dass du mit dem Angsthaben aufhörst, Clara.»
«Das kann ich nicht.»
«Doch, das kannst du.» Sie gab mir eine Sprühflasche. «Das ist Weihwasser», erklärte sie. «Wenn irgendwas Furchterregendes in dein Zimmer kommt, sagst du, es soll verschwinden, und wenn es das nicht tut, bespritzt du es damit.»
Ich bezweifelte ernsthaft, dass Weihwasser bei Außerirdischen irgendeine Wirkung zeigen würde.
«Versuch es einfach», forderte sie mich auf. «Und guck, was passiert.»
Die ganze nächste Nacht hatte ich leise vor mich hin gesprochen: «Verschwinde», und ich hatte die Schatten besprüht, und meine Mutter hatte recht. Die Ungeheuer verschwanden. Ich hatte sie verjagt, nur durch meine Weigerung, mir von ihnen Angst machen zu lassen. Ich gewann die Kontrolle über meine Furcht. Ich besiegte sie.
Und genau so fühle ich mich auch im Moment, als bräuchte ich mich einfach nur zu weigern, vor diesem Vogel Angst zu haben, und er würde verschwinden.
Ich wünschte, ich könnte statt Billy meine Mutter anrufen. Was würde sie wohl zu mir sagen, überlege ich, wenn ich durch irgendeinen Zauber zu ihr gelangen, wenn ich in Jackson einfach in ihr Zimmer gehen könnte, wie ich es immer getan hatte, und wenn ich ihr alles erzählen würde? Ich glaube, ich weiß, was sie machen würde. Sie würde mich auf die Schläfe küssen, so wie das ihre Art war, und mir das Haar aus dem Gesicht streichen. Sie würde mir eine Decke um die Schultern legen. Sie würde mir eine Tasse Tee machen, und ich würde an der Küchentheke sitzen und ihr von der Krähe erzählen, von der Dunkelheit in meiner Vision und davon, wie ich mich in der Vision fühle, und ich würde ihr von meinen Ängsten berichten.
Und ich würde mir wünschen, dass sie dann Folgendes zu mir sagen würde: Es ist an der Zeit, dass du mit dem Angsthaben aufhörst, Clara. Gefahren wird es immer geben. Du musst dein Leben leben .
Ich schalte das Handy wieder aus und lege es auf meinen Schreibtisch.
Ich lasse nicht zu, dass du mir das antust , sage ich in Gedanken zu dem Vogel, auch wenn der im Moment gar nicht in meiner Nähe ist. Ich habe keine Angst vor dir. Und ich werde nicht zulassen, dass du mich von hier vertreibst.
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Ich möchte wirklich gern einen Cheeseburger
Die Tage vergehen im Flug, der Oktober geht bereits zu Ende. Ich bin von dem hektischen Studienbetrieb voll erfasst worden, erlebe am eigenen Leib das «Stanford-Entensyndrom», was bedeutet, dass es den Anschein hat, als ob man ruhig vor sich hin dümpelt, während man unter der Wasseroberfläche verzweifelt paddelt. An fünf Tagen der Woche gehe ich zu meinen Kursen, meist fünf oder sechs Stunden am Tag. Etwa zwei Stunden lerne ich für jede Stunde, die ich in einem Kurs verbringe. Das sind, wenn man es zusammenrechnet, mindestens fünfundsiebzig Stunden die Woche. Wenn man davon Schlafen und Essen und gelegentliche Visionen von mir und Christian versteckt in einem dunklen Raum abzieht, bleiben mir etwa zwanzig Stunden, um ab und zu mit den anderen Mädchen aus dem Wohnheim auf eine Party zu gehen oder mich samstagnachmittags mit Christian auf einen Kaffee zu treffen oder mit Wan Chen einzukaufen und eine Kleinigkeit zu essen oder ins Kino oder an den Strand zu gehen oder zu lernen, wie man Discgolf auf dem Innenhof spielt. Immer mal wieder ruft mich auch Jeffrey an, was eine riesige Erleichterung ist, und fast regelmäßig einmal in der Woche frühstücken wir zusammen in dem Café, wohin wir mit Mom gegangen sind, als wir noch klein waren.
Über viel mehr als das Studium kann ich also gar nicht nachdenken. Was mir ganz gut in den Kram passt.
Ab und zu sehe ich die Krähe auf dem Campus, aber ich gebe mir große Mühe, sie nicht zu beachten, und je öfter ich sie sehe, ohne dass etwas passiert, desto mehr glaube ich, was ich
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