Unearthly. Himmelsbrand (German Edition)
bringen, was?»
«Allerdings. Immer wusste sie schon alles.» Sein Lächeln zeigt, wie tief seine Wunden noch sind. Es bricht mir das Herz.
«Jeffrey …» Ich will ihm vom Himmel erzählen, davon, dass ich Mom da gesehen habe, aber er lässt mich nicht.
«Wie auch immer, sie wusste Bescheid», sagt er. «Sie hat mich sogar irgendwie darauf vorbereitet.»
«Aber vielleicht könnte ich ja …»
«Nein. Ich kann dich in meinem Leben jetzt echt nicht brauchen.» Er wirkt verlegen, als habe er gerade gemerkt, wie unhöflich das, was er gesagt hat, klingt. «Ich meine, ich muss es auf meine eigene Art machen, Clara. Okay? Das wollte ich dir sagen, deshalb bin ich gekommen. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Es ist alles in Ordnung mit mir.»
«Okay», sage ich leise, meine Stimme ist auf einmal ganz belegt. Ich räuspere mich, fasse mich wieder. «Jeffrey …»
«Ich muss zurück jetzt», sagt er.
Ich nicke, als wäre es total logisch, dass es einen Ort gibt, an dem er um fünf Uhr in der Früh sein muss. «Brauchst du Geld?»
«Nein», antwortet er, aber er wartet, während ich schnell in mein Zimmer laufe und mein Portemonnaie hole, und er nimmt das Geld, das ich ihm gebe.
«Wenn du irgendwas brauchst, ruf an», fordere ich ihn auf. «Das meine ich ernst. Ruf an.»
«Wieso? Damit du mich rumkommandieren kannst?», fragt er, aber er nimmt es offenbar mit Humor.
Ich begleite ihn zum Haupteingang. Es ist frostig draußen. Ich mache mir Sorgen, weil er keinen Mantel trägt. Ich mache mir Sorgen, dass die zweiundvierzig Dollar, die ich ihm gegeben habe, nicht ausreichen werden für Unterkunft und Essen. Ich mache mir Sorgen, dass ich ihn womöglich nie wiedersehe.
«Das ist jetzt der Moment, in dem du meinen Arm loslassen musst», sagt er.
Ich zwinge mich, die Finger zu lockern.
«Jeffrey, warte», sage ich, als er losgehen will.
Er bleibt nicht stehen, dreht sich nicht um. «Ich rufe dich an, Clara.»
«Das will ich dir auch geraten haben», schreie ich ihm hinterher.
Er geht um die Ecke. Ich warte volle drei Sekunden, ehe ich ihm hinterherlaufe, aber als ich an der Ecke des Gebäudes ankomme, ist er verschwunden.
Diese blöde Krähe ist da, als ich in meinem Glückskurs sitze, hockt auf einem Zweig direkt vor dem Fenster, beobachtet mich. Eigentlich soll ich meditieren, was bedeutet, dass ich dasitzen und so aussehen muss, als würde ich mich entspannen, gemeinsam mit den etwa sechzig Studenten, die sich in den verschiedensten Meditationsposen auf dem Fußboden verteilt haben. Ich soll all meine weltlichen Gedanken und so weiter vorüberziehen lassen, ohne sie festzuhalten, was nicht möglich ist, denn wenn ich das mache, fange ich an zu leuchten und zu glühen wie eine Sonnenbank im Solarium. Ich soll meine Augen geschlossen halten, aber ich mache sie immer wieder auf, um zu sehen, ob der Vogel noch da ist; und er ist jedes Mal da, wenn ich hinschaue, sieht mich mit diesen hellgelben Augen direkt durch die Fensterscheibe an, als wollte er mir sagen: Na und, was willst du dagegen machen?
Das ist Zufall, denke ich. Es ist nicht derselbe Vogel. Das kann nicht derselbe Vogel sein. Er sieht aus wie derselbe Vogel, aber sehen denn nicht alle Krähen gleich aus? Was will er von mir?
Das ist nun definitiv ein Riesenhindernis bei meiner Suche nach innerem Frieden.
«Ausgezeichnet gemacht», sagt Dr. Welch und streckt die Arme über den Kopf. «Jetzt nehmen wir uns ein paar Minuten Zeit für den Eintrag in unser Dankbarkeitstagebuch, und dann beginnen wir mit der Diskussion.»
Geh weg , übermittele ich dem Vogel in Gedanken meine Bitte. Sei kein Schwarzflügel. Sei einfach nur ein dummer Vogel. Ich will mich im Moment nicht um einen Schwarzflügel kümmern müssen.
Der Vogel neigt den Kopf, sieht mich an, krächzt einmal, dann fliegt er davon.
Ich atme tief ein und stoße die Luft aus. Ich leide unter Verfolgungswahn, sage ich mir zum wiederholten Mal. Es ist bloß ein Vogel. Es ist bloß ein Vogel. Hör auf, dich verrückt zu machen.
Ich bin dankbar dafür, dass die Meditation zu Ende ist , schreibe ich in mein Tagebuch. Nur, um mal sarkastisch zu sein.
Der Typ neben mir guckt rüber, sieht, was ich notiert habe, und grinst.
«Ich kann das auch nicht so gut», sagt er.
Wenn der wüsste. Aber ich lächle und nicke.
«Du bist Clara, stimmt’s?», flüstert er. «Ich erinnere mich an dich von dem blöden Einführungsspiel her, das wir am ersten Tag spielen mussten.»
Dr. Welch räuspert
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