Unendlichkeit
müssen nicht zwangsläufig Calvin sein. Es kann sich ebenso gut um zehn hoch achtzehn Byte metaphysischer Lyrik handeln.«
»Das beweist gar nichts.«
Sie reichte ihm das Notepad. Ihr Hofstaat aus Seepferdchen und Fischen stob auseinander wie ein Glühwürmchenschwarm. »Nein, aber es ist verdächtig. Warum sollte das Alpha genau dann verschwinden, als Sie zu Ihrer Begegnung mit den Schleierwebern aufbrachen, wenn es zwischen den beiden Ereignissen keinerlei Verbindung gibt?«
»Wollen Sie unterstellen, ich hätte etwas damit zu tun gehabt?«
»Die späteren Datenbewegungen können nur von jemandem innerhalb der Sylveste-Organisation gefälscht worden sein. Damit fällt der Verdacht natürlich auf Sie.«
»Ein Motiv wäre nicht schlecht.«
»Oh, machen Sie sich darüber keine Sorgen«, sagte sie und nahm das Notepad wieder auf den Schoß. »Das fällt mir schon noch ein.«
Drei Tage nachdem Volyova durch die Pförtnerratte erfahren hatte, dass die Crew aus dem Kälteschlaf erwacht war, fühlte sie sich endlich in der Lage, ihren Kollegen gegenüberzutreten. Das sollte nicht heißen, dass sie sich auf das Wiedersehen freute. Volyova war zwar nicht direkt ein Menschenfeind, aber es war ihr noch nie schwergefallen, mit sich allein zu sein. Diese Begegnung versprach besonders schwierig zu werden. Nagorny war tot, und das hatten inzwischen natürlich auch die anderen bemerkt.
Wenn man die Ratten nicht mitzählte und auch Nagorny ausschloss, hatte das Schiff noch eine Besatzung von sechs Mann. Fünf, wenn man auch den Captain nicht gelten ließ.
Und warum sollte man, wenn er – jedenfalls, soweit es die anderen betraf – nicht bei Bewusstsein und erst recht nicht ansprechbar war. Er war nur an Bord, weil man hoffte, ihn wiederherstellen zu können. Ansonsten lag die Befehlsgewalt in den Händen des Triumvirats, also bei Yuuji Sajaki, Abdul Hegazi und – natürlich – ihr selbst. Unterhalb davon gab es derzeit noch zwei gleichrangige Besatzungsmitglieder, Kjarval und Sudjic, beides Chimären, die noch nicht lange an Bord waren. Den niedrigsten Rang von allen bekleidete der Waffenoffizier. Diesen Posten hatte Nagorny innegehabt. Nach seinem Tod war dieser Thron sozusagen verwaist; ein Vakuum war entstanden.
Wenn die Besatzung nicht im Kälteschlaf lag, beschränkte sie sich im Allgemeinen auf bestimmte streng abgegrenzte Bereiche des Schiffes und überließ Volyova und ihren Maschinen den Rest. Jetzt war es nach Schiffszeit Morgen. Hier oben, wo sich die Mannschaft aufhielt, folgte die Beleuchtung nach wie vor einem Tag-Nacht-Schema, das von einer Vierundzwanzig-Stunden-Uhr gesteuert wurde. Volyova ging zuerst in den Kälteschlafraum. Er war leer, und alle Tanks bis auf einen waren geöffnet. Der letzte gehörte natürlich Nagorny. Volyova hatte ihm den Kopf wieder aufgesetzt, die Leiche in den Behälter gelegt und heruntergekühlt. Später hatte sie dafür gesorgt, dass das Gerät versagte und Nagorny sich wieder erwärmte. Da war er natürlich schon tot gewesen, aber um das im Nachhinein festzustellen, musste man schon ein erfahrener Pathologe sein. Offensichtlich hatte niemand von der Besatzung besondere Lust verspürt, ihn genauer zu untersuchen.
Wieder kam ihr Sudjic in den Sinn. Sudjic und Nagorny hatten sich eine Zeit lang sehr nahe gestanden. Sie durfte Sudjic nicht unterschätzen.
Volyova verließ den Kälteschlafraum und suchte mehrere Orte auf, die als Treffpunkt in Frage kamen. Schließlich betrat sie einen der Wälder und kämpfte sich durch ein schier undurchdringliches Dickicht aus abgestorbenen Pflanzen, bis sie eine Stelle erreichte, wo die UV-Lampen noch brannten. Dort gab es eine Lichtung, die über eine schlichte Holztreppe zu erreichen war. Schwankenden Schrittes stieg sie nach unten. Die Lichtung war eine Idylle – besonders nach dem langen Weg durch den toten Wald. Der Wind bewegte das Dach aus grünen Palmblättern, durch das immer wieder gelbe Sonnenstrahlen fielen. In der Ferne stürzte ein Wasserfall über schroffe Felswände in eine Lagune. Große und kleine Papageien flogen von Ast zu Ast und krächzten heiser in den Baumkronen.
Volyova knirschte mit den Zähnen. Die künstliche Szenerie war ihr ein Gräuel.
Die vier verbliebenen Besatzungsmitglieder saßen beim Frühstück an einem langen Holztisch, der mit Brot, Obst, Fleisch und Käse, Krügen mit Orangensaft und Karaffen mit Kaffee überreich gedeckt war. Jenseits der Lichtung waren zwei Ritter-Hologramme nach Kräften
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