Unendlichkeit
fraßen buchstäblich alles, was organisch und nicht niet- und nagelfest war oder noch atmete. Wenn die Nahrung in den Eingeweiden grob vorverdaut war, suchten sie bestimmte Schiffszonen auf und führten ihre Ausscheidungen in Pillenform den größeren Wiederaufbereitungssystemen zu. Einige waren sogar mit einer Voicebox und einem kleinen Lexikon mit den wichtigsten Wendungen ausgerüstet, so dass sie unter bestimmten biochemisch programmierten Bedingungen durch externe Stimuli zum Sprechen angeregt werden konnten.
Volyova hatte die Ratten so programmiert, dass sie ihr mitteilten, wenn sie menschliche Rückstände wie abgestorbene Hautzellen und dergleichen verdauten, die nicht von ihr stammten. Auf diese Weise erfuhr sie sofort, wenn die anderen Besatzungsmitglieder aufwachten, auch wenn sie sich in einer ganz anderen Schiffszone aufhielt.
»Besuch«, quiekte die Ratte wieder.
»Schon gut. Ich habe verstanden.« Sie setzte den kleinen Nager auf das Deck und fluchte in allen Sprachen, deren sie mächtig war.
Die Verteidigungsdrohne, die Pascale begleitet hatte, fing die Stress-Schwingungen in Sylvestes Stimme auf und kam surrend näher. »Sie wollen etwas über die Achtzig erfahren? Das können Sie haben. Ich empfinde für diese Menschen keine Spur von Bedauern. Sie wussten alle, worauf sie sich einließen. Außerdem waren es nur neunundsiebzig Freiwillige, nicht achtzig. Die Leute vergessen bequemerweise, dass der achtzigste mein Vater war.«
»Das können Sie ihnen kaum verdenken.«
»Wenn Dummheit erblich ist, dann wohl nicht.« Sylveste versuchte sich zu entspannen. Es fiel ihm schwer. Irgendwann im Lauf des Gesprächs hatte die Miliz angefangen, Angstgas in den Luftraum unter der Kuppel einzuleiten. Nun war das Morgenrot mit schwärzlichen Flecken durchsetzt. »Hören Sie«, sagte Sylveste ruhig. »Die Regierung hat Calvin beschlagnahmt, als ich verhaftet wurde. Er kann sich für seine Handlungen durchaus selbst rechtfertigen.«
»Ich will Sie ja auch nicht zu seinen Handlungen befragen.«
Pascale machte einen Eintrag auf ihrem Notepad. »Ich will wissen, was hinterher aus ihm – aus seiner Alpha-Simulation – geworden ist. Jedes Alpha enthielt etwa zehn hoch achtzehn Byte an Information«, fuhr sie fort und umgab ihre Notiz mit einem Kreis. »Die Archive von Yellowstone weisen große Lücken auf, aber sie geben doch einiges her. Ich konnte feststellen, dass sich Sechsundsechzig Alphas in Orbitalen Datenspeichern um Yellowstone befanden; auf Karussellen, in Kandelaberstädten und in verschiedenen Schlupfwinkeln der Raumpiraten und der Ultras. Die meisten waren natürlich abgestürzt, aber niemand wollte sie löschen. Zehn weitere konnte ich in korrumpierten Datenbanken auf dem Planeten selbst aufspüren, damit bleiben vier, die verschollen sind. Drei von diesen vieren zählen zu den Neunundsiebzig und waren in der Obhut sehr armer oder ausgestorbener Familien. Das letzte ist Calvins Alpha.«
»Hat die Geschichte auch eine Pointe?«, fragte er gelangweilt, um sie nicht merken zu lassen, wie sehr ihn das Thema berührte.
»Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass Calvin auf die gleiche Weise verloren ging wie die anderen. Das passt nicht zusammen. Das Sylveste-Institut hatte es nicht nötig, seine Erbstücke in die Obhut von Gläubigern oder Treuhändern zu geben. Es war bis zum Ausbruch der Seuche eine der wohlhabendsten Einrichtungen auf dem Planeten. Was also ist aus Calvin geworden?«
»Sie glauben, ich hätte ihn mit nach Resurgam gebracht?«
»Nein. Allem Anschein nach war er da schon längst verschwunden. Der letzte Beleg dafür, dass sich das Sim im System befand, datiert mehr als einhundert Jahre vor dem Aufbruch der Resurgam-Expedition.«
»Das ist ein Irrtum«, widersprach Sylveste. »Wenn Sie sich die Unterlagen genauer ansehen, werden Sie feststellen, dass das Alpha Ende des vierundzwanzigsten Jahrhunderts in einen Orbitalen Datenspeicher ausgelagert wurde. Dreißig Jahre später zog das Institut um, und davon war sicher auch das Sim betroffen. ‘39 oder ‘40 wurde das Institut dann vom Haus Reivich angegriffen. Die Reivichs haben die Hauptspeicher gelöscht.«
»Nein«, sagte Pascale, »diese Möglichkeiten habe ich ausgeschlossen. Mir ist durchaus bekannt, dass das Sylveste-Institut im Jahre 2390 etwa zehn hoch achtzehn Byte in den Orbit ausgelagert und die gleiche Datenmenge siebenunddreißig Jahre später wieder zurückgeholt hat. Aber zehn hoch achtzehn Byte Information
Weitere Kostenlose Bücher