Unendlichkeit
fassen.
Doch jetzt hatte ihm etwas die Zunge gelöst.
»Vor langer Zeit reisten die Schleierweber zwischen den Sternen umher«, begann Lascaille. »Ähnlich wie wir heute – nur war ihre Gattung uralt und hatte schon seit vielen Millionen Jahren Raumfahrt betrieben. Sie waren uns wirklich sehr fremd.« Er hielt inne, um die rote Kreide gegen eine blaue auszuwechseln. Die steckte er sich zwischen die Zehen und setzte damit seine Arbeit am Mandala fort. Mit der frei gewordenen Hand begann er, daneben auf den Boden zu zeichnen. Ein Wesen entstand, vielgliedrig, mit Tentakeln, Panzerplatten und Stacheln, kaum noch symmetrisch. Man hätte es eher für ein Urtier gehalten, das über den Grund eines präkambrischen Meeres kroch, als für den Angehörigen einer raumfahrenden Alien-Kultur. Seine Hässlichkeit war nicht zu überbieten.
»Das ist ein Schleierweber?«, fragte Sylveste und erschauerte vor Glück. »Sie sind tatsächlich einem begegnet?«
»Nein; ich bin nie vollends in den Schleier eingedrungen«, sagte Lascaille. »Aber sie haben Verbindung zu mir aufgenommen. Sie haben sich mir offenbart und mir vieles über ihre Geschichte und ihre Natur mitgeteilt.«
Sylveste riss sich von dem grässlichen Ungeheuer los. »Und was haben die Schieber damit zu tun?«
»Die Musterschieber existieren schon sehr lange und sind auf vielen Welten zu finden. Jede raumfahrende Rasse in diesem Teil der Galaxis stößt früher oder später auf sie.«
Lascaille zeigte auf seine Zeichnung. »So war es auch bei den Schleierwebern, nur sehr viel früher. Verstehen Sie, was ich sage, Doktor?«
»Schon…« Jedenfalls glaubte er zu verstehen. »Aber ich weiß nicht, worauf es hinausläuft.« Lascaille lächelte. »Wer – oder was – die Schieber aufsucht, wird in ihrem Gedächtnis bewahrt. Und zwar absolut, das heißt – bis zur letzten Zelle, zur letzten Synapsenverbindung. Denn die Schieber sind nichts anderes als ein unermessliches biologisches Archiv.«
Damit hatte er vollkommen Recht. Die Menschen hatten bisher kaum verwertbare Informationen über die Schieber, ihre Ziele oder ihre Herkunft gewonnen. Doch fast von Anfang an hatte sich gezeigt, dass die Schieber fähig waren, menschliche Persönlichkeiten in ihrer Ozean-Matrix zu speichern, so dass jeder, der im Schieber-Meer schwamm – und dabei aufgelöst und neu zusammengesetzt wurde – so etwas wie Unsterblichkeit erlangte. Die Muster konnten später wieder realisiert und vorübergehend dem Bewusstsein eines anderen Menschen aufgeprägt werden. Es war ein schwer durchschaubares biologisches Verfahren, bei dem sich die gespeicherten Muster mit Millionen von anderen Eindrücken vermischten und alle sich unmerklich untereinander beeinflussten. Schon in der Frühzeit der Schieber-Forschung hatte man entdeckt, dass im Ozean auch fremde Denkstrukturen gespeichert waren, Spuren von fremdem Bewusstsein, die in das Denken der Schwimmer eingesickert waren – aber die Eindrücke waren immer unscharf geblieben.
»Die Schleierweber waren also im Gedächtnis der Schieber bewahrt worden?«, fragte Sylveste. »Aber inwiefern hilft uns das weiter?«
»Mehr als Sie ahnen. Die Schleierweber mögen äußerlich fremd sein, aber der Bauplan ihres Bewusstseins weist doch gewisse Ähnlichkeiten mit unserem Denken auf. Vergessen Sie das Aussehen; denken Sie lieber daran, dass es sich um gesellschaftlich lebende Wesen handelt, die sich verbal äußerten und den gleichen Wahrnehmungshorizont hatten wie wir. Man könnte einen Menschen bis zu einem gewissen Grad dazu bringen, wie ein Schleierweber zu denken, ohne dass er seine Menschlichkeit dafür völlig aufgeben müsste.« Wieder sah er Sylveste an. »Für die Schieber wäre es nicht unmöglich, dem Neokortex eines Menschen das Neuraltransform eines Schleierwebers einzuimpfen.«
Eine unheimliche Vorstellung. Man nähme Kontakt mit einem Alien auf, aber nicht, indem man ihm begegnete, sondern indem man mit ihm verschmolz. Falls Lascaille das tatsächlich meinte. »Wie würde uns das helfen?«
»Es würde den Schleier davon abhalten, uns zu töten.«
»Ich kann Ihnen nicht folgen.«
»Sie müssen begreifen, dass der Schleier ein Schutzwall ist. Dahinter befinden sich… nicht nur die Schleierweber selbst, sondern verschiedene Techniken, die zu zerstörerisch sind, als dass sie in die falschen Hände geraten dürften. Die Schleierweber haben über Jahrmillionen die Galaxis nach Gefahren abgesucht, die von ausgestorbenen Rassen
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