Unendlichkeit
was Sie von ihnen wollen. Natürlich sollten Sie ihnen ein Geschenk mitbringen. Eine Leistung dieser Größenordnung erbringen sie nicht umsonst.«
»Ein Geschenk?«
Sylveste konnte sich nicht vorstellen, was man einem Wesen schenken sollte, das einer schwimmenden Insel aus Tang und Algen glich.
»Ihnen wird schon etwas einfallen. Was immer es ist, es sollte eine große Informationsdichte haben. Sonst langweilt es sie nur. Und das wäre nicht günstig für Sie.« Sylveste wollte noch weitere Fragen stellen, aber Lascaille hatte sich wieder seinen Kreidezeichnungen zugewandt. »Mehr habe ich nicht zu sagen«, erklärte er.
Und dabei blieb er.
Lascaille sprach nie wieder, weder mit Sylveste, noch mit irgendjemandem sonst. Einen Monat später fand man ihn tot im Fischteich. Er war ertrunken.
»Hallo?«, fragte Khouri. »Ist da jemand?« Sie war aufgewacht, mehr wusste sie nicht. Und nicht nach einem Nickerchen, sondern aus einem sehr viel tieferen, längeren und kälteren Schlaf. Wahrscheinlich war es eine Kälteschlaf-Trance gewesen – sie war schon einmal so aufgewacht, damals um Yellowstone, und so etwas vergaß man nicht. Die physiologischen und neuralen Symptome passten genau. Von einem Kälteschlaftank war zwar nichts zu sehen – sie lag voll bekleidet auf einer Couch – man hatte sie wohl herausgeholt, bevor sie noch vollends bei Bewusstsein war. Aber wer war ›man‹? Und wo war sie jetzt? Es war, als hätte jemand eine Granate in ihr Gedächtnis geworfen und es in tausend Stücke zerrissen. Irgendetwas an ihrer Umgebung kam ihr dennoch quälend vertraut vor.
War das ein Flur? Wo auch immer, er stand voll mit hässlichen Figuren. Entweder war sie erst vor wenigen Stunden daran vorbeigegangen, oder es waren Phantasiebilder aus den Tiefen ihrer Vergangenheit; Kindheitsgespenster. Krumm, gezackt, verbrannt ragten sie vor ihr auf und warfen dämonische Schatten. Noch halb benommen begriff sie, dass die Gebilde irgendwie zusammengehörten oder einmal zueinander gepasst hatten. Jetzt waren sie dafür zu verbogen, zu zerfetzt.
Unsichere Schritte tappten durch den Flur.
Sie drehte den Kopf, um zu sehen, wer da kam. Ihr Hals war steifer als ein Stück Holz. Nach jahrelanger Erfahrung wusste sie, dass der Rest ihres Körpers nach der Trance nicht beweglicher sein würde.
Ein Mann blieb wenige Schritte vor ihrem Lager stehen. Im schwachen mondscheinartigen Licht war sein Gesicht schwer zu erkennen, aber seine Rundungen und Schatten hatten etwas Vertrautes, das Erinnerungen weckte. Sie hatte diesen Mann gekannt, vor vielen Jahren.
»Ich bin es«, sagte er mit träger, klebriger Stimme. »Manoukhian. Die Mademoiselle dachte, Sie würden sich beim Aufwachen über ein bekanntes Gesicht freuen.«
Die Namen sagten ihr etwas, aber was es war, bekam sie nicht zu fassen. »Was ist geschehen?«
»Ganz einfach. Sie hat Ihnen ein Angebot gemacht, das Sie nicht ablehnen konnten.«
»Wie lange habe ich geschlafen?«
»Zweiundzwanzig Jahre«, sagte Manoukhian und reichte ihr die Hand. »Wollen wir jetzt die Mademoiselle besuchen?«
Sylveste erwachte vor einer schwarzen Wand, die den Himmel zur Hälfte verschluckte – ein Schwarz von so unendlicher Tiefe, dass es die Existenz aufzuheben schien. Er hatte es nie zuvor bemerkt, aber jetzt sah er – oder glaubte zu sehen – dass die gewöhnliche Dunkelheit zwischen den Sternen in Wirklichkeit einen eigenen, milchigweißen Schein abstrahlte. Lascailles Schleier war dagegen ein kreisrundes, Sternenloses Nichts; keine einzige Lichtquelle, kein Photon aus irgendeinem Teil des wahrnehmbaren elektromagnetischen Spektrums; keine wie auch immer gearteten Neutrinos, keine Elementarteilchen, weder exotische noch andere. Keine Gravitationswellen, keine elektrostatischen oder magnetischen Felder – nicht einmal das leise Flüstern der Hawking-Strahlung, die eigentlich aus dem Grenzgebiet sickern und die entropische Temperatur der Oberfläche widerspiegeln sollte, wenn die wenigen Theorien über Schleier-Mechanik Recht hatten.
Nichts von alledem. Ein Schleier tat – soweit das irgendjemand bisher hatte feststellen können – nichts weiter, als alle Strahlungsformen, die ihn zu durchdringen suchten, umfassend zu blockieren. Und er tat natürlich noch etwas: er zerriss jedes Objekt, das sich zu dicht an seine Grenzen heranwagte.
Man hatte ihn aus dem Kälteschlaf geweckt, und jetzt spürte er jene Schwindel erregende Desorientierung, die jede plötzliche Reanimation
Weitere Kostenlose Bücher