Unendlichkeit
hätte er es eigenhändig mit blutigen Fingern aus der Erde gescharrt. Dann stand er endlich davor und über ihm ragte die felsverkrustete Wölbung frei in die Luft. Eine flache Vertiefung lief schräg um das ganze Artefakt. Von da, wo er stand, wirkte sie nur wie ein Haarriss, aber in Wirklichkeit war sie etwa einen Meter breit und wahrscheinlich ebenso tief.
Girardieu führte sie ins Innere des nächsten Keils: eine Betonkonstruktion mit eigenen Räumen und Arbeitsbereichen, die direkt an das Objekt angebaut war. Von dort fuhren sie mit einem weiteren Fahrstuhl in das Gerüstlabyrinth hinauf, das aus dem Gebäude hervorspross. Sylveste spürte ein Kribbeln im Magen, eine Mischung aus Klaustro- und Agoraphobie. Einerseits fürchtete er, von den Megatonnen von Gestein Hunderte von Metern über seinem Kopf erdrückt zu werden, andererseits schüttelte ihn auf dem himmelhohen Gerüst an der Seite des Objekts die Höhenangst.
Kleine Baracken und Werkzeugschuppen schwebten im geodätischen Tragwerk. Vor einer dieser Buden hielt der Fahrstuhl an. Sie stiegen aus und betraten Räume, die noch spüren ließen, welch reges Treiben bis vor kurzem hier geherrscht hatte. Alle Warnsignale und Notizen waren aufgeklebt oder aufgemalt, für Entoptik-Generatoren waren die Einrichtungen noch zu behelfsmäßig.
Sie überquerten eine schwankende Trägerbrücke, die sich durch einen Wirrwarr von Gerüsten der schwarzen Hülle des Amarantin-Artefakts entgegenstreckte. Jetzt befanden sie sich etwa in der Mitte, auf gleicher Höhe mit der Rinne. Die Kugelform des Objekts war aus dieser geringen Entfernung nicht mehr zu erkennen. Es erschien wie eine einzige schwarze Wand, die ihnen den Weg versperrte. Genau so riesig und ohne Tiefe war Sylveste auch Lascailles Schleier erschienen, nachdem er Spindrift verlassen hatte. Sie gingen auf der Brücke weiter und betraten die Rinne.
Der Weg bog sofort nach rechts ab. Auf drei Seiten – links, oben und unten – waren sie von den unheimlich glatten, schwarzen Wänden umgeben. Unter den Füßen hatten sie einen Gittersteg, der mit Saugfüßen am Boden befestigt war. Das fremde Material war so glatt, dass man darauf kaum Halt gefunden hätte. Rechts befand sich ein hüfthohes Schutzgeländer, und dahinter ging es mehrere hundert Meter weit ins Nichts. An der Innenwand waren in Abständen von fünf bis sechs Metern mit Epoxidpunkten Lampen befestigt und etwa alle zwanzig Meter tauchte eine Tafel mit rätselhaften Symbolen auf.
Nachdem sie drei bis vier Minuten lang die steile Rinne hinaufgestiegen waren, blieb Girardieu stehen. Vor ihnen befand sich ein Knotenpunkt, ein heilloses Gewirr aus Stromleitungen, Lampen und Kommunikationsschaltpulten. Die linke Wand der Vertiefung wich hier nach innen zurück.
»Wir haben Wochen gebraucht, um den Eingang zu finden«, erklärte Girardieu. »Ursprünglich war die ganze Rinne mit Basalt verschüttet. Erst nachdem wir alles herausgeschlagen hatten, stellten wir fest, dass dies die einzige Stelle war, wo sich der Basalt nach innen fortsetzte, als blockiere er dort einen Stichtunnel, der in die Rinne mündete.«
»Wie man sieht, waren Sie fleißig wie die Biber.«
»Das Graben war Schwerarbeit«, bestätigte Girardieu mit einem Nicken. »Die Rinne war vergleichsweise leicht freizulegen, aber hier hatten wir nur ein kleines Loch, durch das wir nicht nur bohren, sondern auch den Abraum wegschaffen mussten. Einige von uns wollten mit Boser-Brennern Nebengänge bohren, um sich die Arbeit zu erleichtern, aber so weit sind wir nie gegangen. Und mit unseren Mineralbohrern war dem Zeug nicht beizukommen.«
Sylvestes wissenschaftliches Interesse erwies sich als stärker als der Wunsch, sich über Girardieus rührende Versuche, ihn zu beeindrucken, lustig zu machen. »Wissen Sie, was für ein Material das ist?«
»Im Grunde nichts anderes als Kohlenstoff vermischt mit Eisen und Niobium und einigen seltenen Metallen in Spurenelementen. Aber die Struktur ist uns unbekannt. Es handelt sich nicht einfach um ein Diamant-Allotrop, das wir noch nicht entdeckt haben, auch nicht um Hyperdiamant. Die obersten Zehntelmillimeter haben vielleicht einige Ähnlichkeit mit Diamant, aber weiter unten durchläuft das Zeug eine komplexe Gittertransformation. Die endgültige Form – in viel größerer Tiefe, als wir bisher unsere Proben entnommen hatten – ist womöglich gar kein echter Kristall. Es könnte sein, dass das Gitter in Trillionen von Makromolekülen mit hohem
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