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Unerwünscht: Drei Brüder aus dem Iran erzählen ihre deutsche Geschichte

Unerwünscht: Drei Brüder aus dem Iran erzählen ihre deutsche Geschichte

Titel: Unerwünscht: Drei Brüder aus dem Iran erzählen ihre deutsche Geschichte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mojtaba Milad; Sadinam Masoud; Sadinam Sadinam
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sie ihr. Dann streckte er wieder seinen Kopf aus der Tür und rief einen anderen Namen.
    Scholeh kam mit gerunzelter Stirn zu uns: »Er will, dass wir rausgehen.«
    »Aber Münster scheint sehr weit weg zu sein«, protestierte Madar und zeigte auf die Karte.
    »Ungefähr zweihundert Kilometer«, erklärte Scholeh. »Man fährt beinahe zwei Stunden mit dem Auto.«
    »Zwei Stunden«, wiederholte ich ungläubig. »Das ist ja fast so lang, wie wir von zu Hause zum Kaspischen Meer gebraucht haben.«
    Ein bis zwei Mal im Jahr hatten wir die überfüllten und lauten Straßen Teherans verlassen und waren für ein paar Tage in den grünen Norden Irans mit seinen Wäldern, Reis- und Teefeldern gefahren, um die Tante unseres Vaters zu besuchen. Wieder tauchten Bilder in meinem Kopf auf. Ich sah die alte, gebrechliche Frau mit hennarotem Haar inmitten ihres großen Hühnerhofs stehen und mit kreisender Handbewegung Futter um sich herum verstreuen. Unzählige Hühner und Hähne umgaben sie gackernd, plusterten ihr Gefieder und pickten um die Wette. Masoud, Milad und ich waren ganz vernarrt in die Viecher gewesen. Doch wir hatten stets abgewartet, bis die Tante fertig war und den Hof verlassen hatte, bevor wir losjagten, um die Hühner zu fangen und zu streicheln. Die Reisen zum Kaspischen Meer waren mir stets vorgekommen wie Ausflüge in eine wilde und wundervolle Märchenwelt. Allerdings hatten die Autofahrten dorthin endlos gedauert. Nun wollte man uns genauso weit von Hannover wegschicken.
    »Aber wir kennen niemanden dort!«, stammelte ich.
    »Kann man nicht mit denen nochmal reden?«, fragte Madar und ihre Augen huschten unruhig von Scholeh zur Karte und zurück.
    Scholeh rieb ihre Stirn. Die Situation schien ihr sehr unangenehm. »Der Beamte sagt, er könne nichts daran ändern. Es sei nicht seine Entscheidung, er müsse die Flüchtlinge gleichmäßig verteilen. Ihr sollt euch damit abfinden.« Die hilflose Geste, die ihre letzten Worte untermalte, löste betretenes Schweigen im Raum aus. Der Beamte nutzte die Stille, um uns herauszuschicken, indem er mit seinem knochigen Zeigefinger auf die Tür wies. »Lasst uns gehen«, flüsterte Scholeh schließlich.
    Auf dem Parkplatz vor der Anmeldestelle sprach keiner ein Wort. Inzwischen war die Sonne hinter schweren Regenwolken verschwunden und Scholehs Ente hatte ihren Glanz von heute Morgen verloren. Wie sollten wir in diesem fremden Land alleine zurechtkommen? Wir sprachen überhaupt kein Deutsch, konnten uns niemandem verständlich machen und niemanden verstehen. Das Vorgehen der Beamten, die Abläufe in ihren Büros und Computern waren für uns völlig undurchschaubar. Sogar Madar, die im Iran für alles eine Lösung wusste, schien nun machtlos. Sie war genauso von Scholeh abhängig, wie wir früher von ihr. Keiner hatte damit gerechnet, dass es so kompliziert würde. Allein Scholehs Vorschlag, uns nach Münster zu fahren, munterte mich ein wenig auf.
    Als die Ente auf die Autobahn Richtung Münster rollte, begann es heftig zu regnen. Die kleinen Scheibenwischer kämpften gegen den unaufhörlichen Wasserstrom an. Regentropfen prasselten laut auf das Autodach, als spielte der Himmel darauf einen wilden Trommelwirbel. Draußen zogen Wiesen und Ackerfelder, Bäume und Sträucher vorüber. Sie erinnerten mich an den fruchtbaren Norden Irans kurz vor dem Kaspischen Meer. Wehmut überkam mich bei dem Gedanken, vielleicht nie wieder den Hühnerhof unserer Großtante zu sehen.
    Bald begann es zu dämmern, und über den Feldern und Wiesen breitete sich ein bläulicher Schatten aus, der immer dunkler wurde, bis er nur noch von den Autoscheinwerfern durchbrochen werden konnte. Ich versank in Apathie; statt alles Neue gierig aufzusaugen, waren meine Sinne wie betäubt. Der Nachhall der Geschehnisse der letzten Stunden baute sich wie eine undurchdringliche Mauer um mich herum auf. So schlief ich ein.
    Als ich aufwachte und nach draußen sah, glaubte ich, wir wären wieder zurückgefahren. Der Wagen hatte erneut an einer Schranke gehalten. Mauern, Metallstangen und Stacheldrahtzaun flankierten sie und versperrten den Weg zu gespenstischen Schemen großer Gebäude. Zögerlich stieg ich aus und sah, wie Masoud und Milad damit beschäftigt waren, unseren Koffer aus dem Auto zu wuchten. Der Regen benetzte mein Gesicht und rüttelte mich wach: Das konnte nicht mehr Hannover sein, sondern der Eingang des Münsteraner Heimes.
    Als wir uns von Scholeh verabschiedet hatten, schauten wir ihrer

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