Unerwünscht: Drei Brüder aus dem Iran erzählen ihre deutsche Geschichte
der mir vorhin noch versperrt geblieben war. So saßen wir gemeinsam an einem der schäbigen Tische, vor uns vier Tabletts beladen mit Tellern und Schüsseln. Ich hatte meine Portion schnellstmöglich vertilgt, ohne wirklich zu merken, wie es schmeckte. Mit aufgeblähtem Bauch und schläfrigen Augen lauschte ich Madars Bericht:
»Sie haben mir gesagt, wir sollen diese Karten immer bei uns tragen. Also, steckt sie am besten in die Hosentasche und passt gut darauf auf. So kann nichts passieren, wenn die Wachen euch kontrollieren.«
»Wieso sollten sie uns kontrollieren? Wir haben doch nichts getan«, sagte Milad verwundert.
» Arum, arum , keine Sorge!«, beruhigte ihn Madar. »Sie suchen wahrscheinlich nach Menschen, die nicht hier sein dürfen. Vielleicht nach solchen, die über den Zaun geklettert sind.«
»Puh«, stieß ich aus, war aber noch zu benommen, um den Rest meines Satzes auszusprechen.
»Wieso sollte irgendjemand freiwillig hier reinwollen?«, fragte Masoud, der wieder mal genau dasselbe dachte wie ich – auch wenn es aus meinem Munde sicher etwas schnippischer geklungen hätte.
»Besucher«, antwortete Madar kurz. »Die kommen nur mit besonderer Genehmigung rein und dürfen nicht über Nacht bleiben. Und auch wir müssen uns an bestimmte Zeiten halten: Von acht Uhr abends bis acht Uhr morgens ist Ausgangssperre, da dürfen wir das Heimgelände nicht verlassen.«
»Bleiben wir jetzt für immer hier?«, fragte Milad mit halb erstickter Stimme und faltete seine Hände auf dem Bauch, als werde ihm bei dem Gedanken übel.
Es vergingen einige Sekunden. Mir war bange vor der Antwort, die unsere Mutter geben könnte. Sag bitte nicht ja, flehte ich sie innerlich an.
»Ich weiß es nicht. Wir sollen auf einen Brief warten, in dem das weitere Vorgehen erklärt werde. Wann der Brief kommt, haben sie mir aber nicht gesagt.«
Milad, der immer noch auf seinem Bauch herumdrückte, krümmte sich nun und das lenkte Madars Blick auf ihn: » Asisam , Milad, tschi-e ? Geht es dir nicht gut?«
»Ich … mein Bauch … es tut …«, er druckste lange, bevor er Madar schließlich gestand, dass er seit unserer Ankunft in Münster nicht aufs Klo gegangen war, weil ihn der Dreck und Gestank dort anekelten. Ich riet ihm, die Klobrille vor dem Hinsetzen mit Toilettenpapier zu bedecken, aber er ließ sich erst dazu überreden, als Madar eine Belohnung in Aussicht stellte: »Wenn du fertig bist, rufen wir von der Telefonzelle aus Mamani und Babai an!«
» Pessarane asisam , ma dussetun darim! «, knisterte es aus dem Hörer.
Babai, Mamani, ich liebe euch auch, wollte ich noch rufen, aber da piepte es schon in der Leitung: Die Verbindung war getrennt. Zwei Minuten. Für mehr reichte das wenige Geld nicht, das Madar beim Verabschieden von Scholeh erhalten hatte. Mamanis letzter Satz hallte noch in mir nach: »Meine lieben Jungs, wir lieben euch!«
Zum ersten Mal nach mehr als drei Monaten hatte ich Mamanis und Babais Stimmen wieder gehört. Für zwei Minuten war ich über eine zauberhafte Brücke zu ihnen gelaufen; für zwei Minuten hatte mein Kopf wieder auf Mamanis Schoß gelegen, während sie im Schneidersitz einen Petersilienberg bearbeitete und die strahlend grünen, gefiederten Blätter vom Stängel abtrennte; für zwei Minuten stand ich wieder vor Babai, der mich mit seinen von Falten durchzogenen Händen packte, fest an sich drückte und mir Koseworte ins Ohr flüsterte: » Jane man! Nafasse man! « – Mein Leben! Meine Atemluft!
Das Telefonat ließ nicht nur ein Stück Heimat aufleben, sondern auch unseren Spieltrieb: Am äußersten Rand des Hofes, hinter dem schönen Baum, standen zwei einsame Bänke. Madar setzte sich auf eine von ihnen, blätterte in einer englischsprachigen Zeitung, die jemand liegen gelassen hatte, während wir drei Verstecken spielten. Die sengende Sonne und die Spannung, wenn ich regungslos hinter einem Busch darauf wartete im richtigen Moment loszuflitzen, erinnerten mich an Ekbatan.
Am Ende, als es schon zu dämmern begann, waren wir drei nass geschwitzt, und unsere staubigen Klamotten verrieten, wie oft wir uns zum Verstecken auf den Boden geworfen hatten. Wir mussten uns waschen, aber das war schwieriger als gedacht: Im Heim gab es nur Gemeinschaftsduschen, wo sich Duschköpfe an gelb gefliesten Wänden reihten. Die Räume waren voller Männer, die sich eifrig wuschen – splitternackt. Pedar war der einzige Mann, den wir jemals in unserem Leben gänzlich unbekleidet gesehen
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