Unerwünscht: Drei Brüder aus dem Iran erzählen ihre deutsche Geschichte
lachend davon. Ich jagte ihm hinterher und schrie: »Farroch, gib sofort das Brot her! Los, sei nicht so eigensinnig! Gib mir zumindest etwas ab! Farroch, komm zurück …! Farroch!«
Plötzlich hörte ich Madars Stimme, die mir Kosenamen ins Ohr flüsterte. Die Bilder verblassten, um bald gänzlich zu verschwinden. Eine Träne kullerte meine Wange herunter. Ich riss die Augen auf und wischte mir über das Gesicht. Es war nur ein Traum gewesen.
Eine Stunde später lagen die ausgefüllten Formulare noch immer auf Madars Schoß und wir harrten weiter auf unseren Plätzen aus. Seit unserem Abflug am frühen Morgen in Teheran hatten wir nur wenig gegessen und getrunken, sodass sich zu dem hohen Geräuschpegel nun auch Hunger und Durst gesellten.
»Madar, gibt es hier nicht zumindest etwas zu trinken?«, fragte ich.
»Auf dem Gang sind Toiletten. Da könnt ihr Wasser trinken«, sagte Scholeh.
Kurz darauf standen Masoud, Milad und ich um ein Waschbecken herum und löschten gierig unseren Durst. Es war fast wie in der Schule, wo wir zum Pausenbeginn mit unseren Mitschülern einen Wettlauf zu den Wasserhähnen am Rand des Pausenhofs machten, um lachend das kalte Wasser zu schlürfen. Doch das, was hier aus dem Hahn kam, schmeckte anders. Es war warm und nicht besonders erfrischend.
Als wir die Toilette verließen und auf den Flur hinaustraten, wurden wir von Scholeh empfangen. Sie erklärte uns, dass Madar inzwischen aufgerufen worden sei und sich in einem Raum befinde, wo man sie fotografiere und ihre Fingerabdrücke nehme. Das löste panische Angst in mir aus. Unwillkürlich musste ich an Filme denken, in denen Häftlingen die Fingerabdrücke genommen wurden, um sie dann einzusperren.
»Wieso tun sie das?«, fragte Masoud, der sich offensichtlich ähnliche Sorgen machte.
»Ich weiß es nicht genau«, antwortete sie und zog ihre Schultern hoch. »Sie nehmen allen Erwachsenen die Fingerabdrücke. Seid nicht besorgt.«
»Ich will zu ihr!«, verlangte Masoud aufgebracht.
Scholeh legte beruhigend ihren Arm um ihn. »Sie wird gleich fertig sein. Berim , wir setzen uns wieder.«
Als Madar endlich zurückkam, sah sie blass aus und wehrte jeden Versuch ab, sie nach ihrem Befinden zu fragen. So blieb uns nichts anderes übrig, als schweigend weiter zu warten, dabei gegen den Hunger anzukämpfen und das Stimmengewirr so gut es ging zu ignorieren.
Nach einer gefühlten Ewigkeit war es so weit: Mit lauter Stimme wurde Madar aufgerufen. Obwohl mir überhaupt nicht zum Lachen war, musste ich kichern, weil ihr Name völlig falsch betont worden war. Wir folgten dem Ausruf und entdeckten im Flur einen großen schlaksigen Mann mit kurz geschorenem Haar, der an einer der vielen Zimmertüren stand. Ohne etwas zu sagen, ging er wieder in sein Büro zurück. Wir liefen ihm nach.
Als der Mann die Tür geschlossen hatte, setzte er sich hinter einen Schreibtisch und begann zu sprechen. Er redete schnell und seine Worte klangen abgehackt und hart. Scholeh übersetzte stückweise: »Es geht darum, welchem Heim ihr zugewiesen werdet.« Sie hörte weiter zu. Plötzlich zog sie beide Augenbrauen hoch. Der Mann beendete seinen Monolog, aber Scholeh schien noch immer angespannt.
»Was hat er gesagt?«, fragte Madar und legte ihre Hand auf ihren Arm.
Scholeh zögerte. Ihr versteinerter Gesichtsausdruck wich nun einem nervösen Herumkauen auf ihrer Unterlippe. Widerwillig redete sie endlich: »Es wird deutschlandweit geguckt.«
»Deutschlandweit? Können wir uns denn nicht aussuchen, wo wir hinkommen?«, fragte Madar erstaunt. »Wir würden gerne bei dir in Hannover bleiben. Du bist der einzige Mensch, den ich in diesem Land kenne!«
Scholeh übersetzte das für den Mann. Am Anfang sprach sie langsam und ruhig, dann wurde sie schneller und lauter, aber er reagierte nicht. Stur blickte er auf seinen Bildschirm und klickte abwechselnd auf seiner Computermaus und Tastatur herum. Plötzlich erhob er sich und ging an uns vorbei zu einer Deutschlandkarte, die an der gegenüberliegenden Wand befestigt war. Er tippte auf einen Punkt in der linken Hälfte der Karte und sagte kurz und bestimmt einen Stadtnamen. Es klang sehr eigenartig, vor allem weil sich seine sonst so harte Stimme hochschraubte, als würde sie sich gleich überschlagen: »Münster!«
Wir versammelten uns vor der Karte und suchten sowohl Münster als auch Hannover, um die Entfernung einzuschätzen. Der Mann wechselte ein paar Sätze mit Scholeh, druckte einige Seiten aus und gab
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