Unerwünscht: Drei Brüder aus dem Iran erzählen ihre deutsche Geschichte
und ich tauchte in den Tumult der ins Schulgebäude strömenden Schüler unter.
In der Klasse angekommen, hatte unsere Lehrerin bereits das große Geodreieck auf das Pult gelegt. Mir fiel ein, dass wir jetzt Mathe hatten. Ich freute mich riesig: Mathematik hatte schon im Iran zu meinen Lieblingsfächern gehört und hier war es das einzige Fach, in dem ich gut war. Zwar verstand ich nicht alles, was gesagt wurde, aber die Rechenaufgaben konnte ich immer lösen.
Wir behandelten gerade Bruchrechnung und die Lehrerin begann den Unterricht mit einigen Übungen, die sie an die Tafel schrieb. Schon nach wenigen Minuten hatte ich alles gelöst, während die meisten meiner Mitschüler noch tief im Zahlendschungel versunken waren. Michael saß neben mir und sah mich fragend an. Er war nicht besonders gut in Mathe und ich verstand, was er wollte. Also schob ich mein Heft etwas in seine Richtung. Er lächelte mich an und gab ein kurzes »Danke« zurück.
Die restliche Stunde verflog im Nu. Als die Klingel ertönte, trödelte ich absichtlich herum. Wir hatten Schulschluss und ich wusste, was mich auf dem Heimweg erwartete. Jeden Tag fuhr ich mit dem Bus nach Hause und zu meinem Pech nahm Sascha dieselbe Linie und stieg sogar an derselben Haltestelle aus.
Heute setzte ich mich ganz nach vorn in die Nähe des Fahrers, weil Sascha und sein Freund immer die letzte Reihe für sich beanspruchten. Was konnte ich bloß tun? Schon oft hatte ich in Betracht gezogen, meine Lehrerin um Hilfe zu bitten. Aber jedes Mal, wenn ich vor ihr stand, verlor ich den Mut und bekam keinen Ton heraus. Außerdem befürchtete ich, dass mich Sascha danach noch mehr schikanieren würde.
Als der Bus schließlich anhielt, sprang ich schnell heraus. Doch schon nach wenigen Schritten war Saschas Stimme zu hören: »Hey, du! Läufst du vor mir weg?«
Ich wusste, dass er mich meinte, und blieb stehen. Meine Brust hob und senkte sich heftig bei jedem Atemzug. Dann drehte ich mich – zu meiner eigenen Überraschung – langsam um.
»Lass mich in Ruhe!«
»Und wenn nicht? Was willst du machen?«
Ich wusste nicht, was ich antworten sollte, also wiederholte ich es nochmal: »Lass mich in Ruhe!«
Sascha hob ruckartig seine Hand und ich sah, dass er ein Trinkpäckchen in den Fingern hielt. Aber es war schon zu spät. Er drückte fest zu und der Inhalt spritzte mir ins Gesicht.
In diesem Moment war es, als ob mein Körper ganz allein die Antwort auf all die Fragen gab, die ich mir zuvor im Bus gestellt hatte. Mit aller Kraft versetzte ich Sascha einen wuchtigen Stoß. Er taumelte einige Schritte nach hinten, stolperte und landete auf verdutzt auf dem Boden. Ich war verblüfft über meine Stärke, denn Sascha war etwas größer als ich. Er blieb sitzen und stierte mich an. Sein Blick verriet, dass er genauso überrascht war wie ich.
Ich klaubte meinen restlichen Mut zusammen und wiederholte diesmal laut und bestimmt: »Lass. Mich. In. Ruhe!« Dann drehte ich mich um und machte mich auf den Heimweg.
Es kam mir vor, als schwebte ich über dem Boden. Meine Beine trugen mich mit großen Schritten nach Hause, beflügelt von dem Bild, wie Sascha hilflos auf dem Boden lag. Es war berauschend! Mich befeuerte außerdem der Gedanke, dass unsere Klassenlehrerin bald Empfehlungen für uns aussprechen würde, denn die vierte Klasse war fast vorbei. Ich würde auf eine neue Schule kommen; welche das sein würde, war mir egal, Hauptsache weg von meinem Peiniger.
Langsam beruhigten sich meine Schritte. Jetzt, wo mein Puls sich gelegt hatte, wurde mir klar, dass ich Sascha morgen wieder begegnen würde. Ich hatte ihn geschubst und er würde das nicht so schnell vergessen. Wie sollte ich mich morgen wehren? Sollte ich Masoud, Mojtaba und Madar davon erzählen? Mir fiel ein, wie sich Mojtaba einmal im Iran mit einem anderen Jungen gerauft hatte und mit einer blutigen Nase nach Hause gekommen war. Madar war richtig wütend auf ihn gewesen. Mit schlurfenden Schritten kam ich daheim an. Doch anstatt hineinzugehen, begab ich mich auf den Hof und setzte mich auf die verrostete Schaukel in der Ecke. Einige Minuten lang starrte ich auf den fahlen Boden. Ich vermisste unser Zuhause im Iran und meine Freunde. Früher hatte ich mich in der Schule niemals so einsam gefühlt.
Plötzlich rollte ein Tennisball vor meine Füße. Floppy, der riesige Hund vom Hausmeister, bäumte sich mit offenem Mund und heraushängender Zunge vor mir auf. Für einen Moment wurde ich fast panisch, weil ich
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