Unerwünscht: Drei Brüder aus dem Iran erzählen ihre deutsche Geschichte
Papierkügelchen hatte sich eingenistet. Ohne sich wie die Male davor umzudrehen, um mit erhobenem Zeigefinger die Klasse zu ermahnen, schrieb er das Alphabet weiter an die Tafel. Er tat mir leid.
Im Iran wäre so etwas unvorstellbar gewesen. Wenn unsere Lehrerin reinkam, standen wir auf und begrüßten sie im Chor. Dann setzten wir uns hin und es wurde still. Die Lehrer duldeten keine Unruhe in der Klasse, doch jede von ihnen hatte ihre eigene Methode, um die Schüler ruhig zu halten. Die Netten mahnten uns bloß. Andere schickten den Störenfried raus. Doch es gab eine Lehrerin, die besonders gemein war: Sie kniff mit ihren langen Fingernägeln ins Ohrläppchen.
Wieder flog ein Papierkügelchen Richtung Herr Bock. Wieder brach die gesamte Klasse in Gelächter aus. Am liebsten wäre ich aufgestanden und hätte den umgebauten Kugelschreiber zerbrochen, mit dem der blonde Junge die vollgesabberten Bällchen schoss. Doch ich traute mich nicht. Er war älter als ich und gebärdete sich als Anführer einer Jungsclique. Außerdem: Wie hätte ich ihm etwas sagen sollen, mit den paar Wörtern Deutsch, die ich konnte?
Er war mir schon beim Reinkommen in die Klasse aufgefallen. Als Herr Bock uns den anderen vorgestellt und unsere Namen erwähnt hatte, hatte der Junge laut gelacht und Mojtaba als Matumba bezeichnet, worauf alle losgeprustet hatten. Seitdem wusste ich, dass wir einen großen Bogen um ihn machen sollten.
Am Ende brachte der Deutschunterricht gar nichts. Unser Lehrer war hauptsächlich damit beschäftigt, die anderen zu ermahnen. Eigentlich beachtete ihn niemand. Jeder war in seine eigene Sache vertieft. Viele unterhielten sich ununterbrochen. Aus jeder Ecke hörte man eine andere Sprache, nur nicht Deutsch.
Wie sollte man sich dabei konzentrieren? Neben mir saß außerdem ein Junge, der ständig in seiner Nase popelte und anschließend den dreckigen Finger unter dem Tisch abrieb. Vor allem widerte mich sein Gestank an. Im Vergleich dazu dufteten sogar unsere aufgetragenen Klamotten nach frischer Morgenluft. Höchstwahrscheinlich hatte seine Mutter einen noch schlechteren Sack erwischt als Madar.
Das einzig Interessante, das im Unterricht meine Neugier weckte, war ein Mädchen, das vorne rechts saß. Zum ersten Mal in meinem Leben drückte ich nicht nur mit Jungen die Schulbank. Und dieses Mädchen lief auch noch ohne Kopftuch herum. Sie hatte glatte Pausbacken und langes, blondes Haar, das mich faszinierte. Ich beobachtete sie immer wieder aus dem Augenwinkel.
Dann klingelte es und die Stunde war vorbei. Alle rannten aus dem Klassenzimmer. Auch Mojtaba und ich packten unsere Sachen und folgten den anderen in einen Raum mit großen quadratischen Tischen. Direkt nebenan befand sich eine Küche, die ich in der Größe noch nie gesehen hatte. »Kochen« war hier an der Schule auch ein Unterrichtsfach. Mojtaba und ich nahmen am Rande des Raumes Platz.
Mein streunender Blick fiel wieder auf das Mädchen, das mir gegenübersaß. Herr Bock hatte sie im Unterricht einmal mit Namen aufgerufen. Doch ich erinnerte mich nicht mehr daran. Neben ihr hockte nun wieder der gemeine Junge. Ihre Pausbacken waren gerötet und glichen Roter Bete, die wir so oft im Iran gegessen hatten. Was fand sie bloß an diesem Fiesling?
Die Tür ging auf und eine schlanke Frau trat leichtfüßig herein. Lächelnd begrüßte sie die Klasse. Komisch, diesmal wurden alle still. Schon für diese unglaubliche Leistung mochte ich die neue Lehrerin. Sie redete einige Sätze, dann standen alle auf und gingen in die Küche. Mojtaba und ich blieben sitzen. Die Lehrerin kam zu uns, stützte sich mit beiden Händen auf den Tisch und ihre Lippen begannen sich zu bewegen. Sie redete und redete, aber am Ende hatte ich nur ein einziges Wort entziffern können – Haus . Ihre Lippen hielten inne und sie starrte uns an. Ich schaute hoffnungsvoll zu Mojtaba herüber, aber auch er schien ratlos zu sein. Schließlich antwortete er zaghaft mit dem Satz, den wir in Münster für alle Notfälle gelernt hatten: »Ich spre-che kein Deutsch.«
Ihre Lippen zogen sich sekundenlang an den Winkeln nach oben. Dann bewegten sie sich wieder: »… English … ?«
Mojtaba antwortete mit einem knappen » a little bit «, während er seinen Zeigefinger und Daumen hochhob, als hielte er einen Radiergummi zwischen den Fingern.
Die Lehrerin bedeutete uns mit einem Nicken, ihr zu folgen. Gemeinsam gingen wir in die Küche, wo alle fleißig arbeiteten: Einer maß in einem
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