Unerwünscht: Drei Brüder aus dem Iran erzählen ihre deutsche Geschichte
von Christa und ihren Bekannten beraten lassen. Als sie schließlich erfahren hatte, dass es für uns am besten sei, die Schule so bald wie möglich zu wechseln, war sie von ihrem Entschluss nicht mehr abzubringen.
So kam der Schulwechsel und veränderte vieles: Ich besuchte nun eine normale Klasse und erhielt denselben Unterricht wie alle anderen Schüler. Und obwohl ich freiwillig anstatt in die Siebte in die Fünfte ging, erwies sich der Einstieg als sehr schwierig. Anfangs konnte ich weder den Lehrern noch meinen Mitschülern folgen und ging jeden Mittag mit einem dröhnenden Kopf nach Hause.
Doch die grundlegendste Veränderung war, dass Mojtaba und ich getrennte Klassen besuchten. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich alleine – ohne Mojtaba. Nie zuvor hatte ich so viele Stunden ohne ihn verbracht. Seit unserer Geburt wuchsen wir gemeinsam auf: Wir besuchten zusammen den Kindergarten, die Vorschule, gingen dann in dieselbe Grundschulklasse, hatten dieselben Freunde und spielten dieselben Spiele. Nun verbrachte ich den halben Tag ohne ihn. Wir hatten unterschiedliche Lehrer, unterschiedliche Mitschüler, unterschiedliche Hausaufgaben und bald auch unterschiedliche Freunde.
Jeden Morgen, wenn ich mich von ihm verabschiedete, kam es mir vor, als würde ich einem Teil von mir Lebewohl sagen. Im Unterricht fühlte ich mich unvollständig. Als wäre ich aus dem Haus gegangen und hätte dort etwas sehr Wichtiges vergessen. Ich fragte mich, wie er sich wohl dabei fühlte.
Es gab aber auch Vorteile: Ich konnte viel Zeit mit Carina verbringen. Sie war die erste Person, mit der ich mich angefreundet hatte. Im Unterricht saß sie mir gegenüber. Immer, wenn unsere Augen sich trafen, lächelte sie mich an. Anfangs wusste ich nicht recht, wie ich darauf reagieren sollte. Manchmal ignorierte ich sie einfach. Vor den übrigen Mitschülern schämte ich mich für mein schlechtes Deutsch, aber in ihrem Fall verunsicherte mich noch etwas ganz anderes: Nie zuvor hatte ich wirklich mit einem Mädchen zu tun gehabt. Wenn ich neben ihr stand, wusste ich nicht, worüber sie gerne redete oder was sie gerne unternahm. Bislang waren all meine Freunde Jungs gewesen. Wenn wir uns getroffen hatten, spielten wir entweder Fußball oder Verstecken. Mit Carina war das anders, mit ihr konnte ich so etwas irgendwie nicht machen.
Im Unterricht schrieben wir uns Briefe. Ihre Freundin war dafür zuständig, die Nachrichten weiterzuleiten. In meinem ersten Brief brachte ich ganze drei Zeilen voller haarsträubender Fehler zusammen: »Hallo Carina. Ich finde dich schön. Du bist ser net zu mir. Ich mag dich fiel!« Doch das störte sie anscheinend nicht, denn in einem ihrer Zettelchen stand, dass auch sie mich sehr gerne mochte. Heute Abend hatte sie mich zur Begrüßung sogar umarmt.
Plötzlich platzte im Feuer etwas lautstark auf, und ein Funke stieg hoch zu den Sternen. Carina stand immer noch vor dem Buffet und belud jetzt ihren Teller mit Speisen. Leicht nach vorne gebeugt, überdeckten die blonden glatten Haare ihr Gesicht. Jede kleinste Bewegung wirbelte den goldenen Vorhang beiseite und ließ ihre Schönheit durchschimmern. Nachdem sie fertig war, drehte sie sich um und kam geradewegs auf mich zu. Ohne etwas zu sagen setzte sie sich auf die Bank. Vor Freude und Anspannung zuckte mein Körper unmerklich zusammen. Ich war wie elektrisiert. Sie hingegen aß wortlos von ihrem Teller. Irgendwie musste ich das Schweigen brechen. Also raffte ich all meinen Mut zusammen und wandte mich ihr zu: »Kann ich bitte einen Wurst haben?«
Sie fing an zu lächeln und sagte knapp: »Das heißt eine Wurst.«
Verschämt blickte ich zurück ins Feuer.
MILAD »Hey ihr zwei!« Madar stand plötzlich neben mir. »Kommt tanzen!«
»Keine Lust!«, erwiderte ich. Mojtaba, der links von mir saß, schien auch nicht in Stimmung zu sein und schüttelte nur den Kopf. Madar zuckte kurz die Achseln und ging wieder zu der eigenartig tanzenden Menge zurück. Für einen kurzen Moment konnte ich mir ein Grinsen nicht verkneifen, weil ich mir die Masse als Wackelpudding vorstellte, der hin und her wabbelte.
»Mojtaba, was glaubst du, wann Pedar kommt?«
»Ich weiß es nicht.«
»Denkst du, er wird es hierher schaffen?«
»Bestimmt. Mach dir keine Sorgen.«
Ich schaute wieder ins Feuer und meine Gedanken wanderten zu Pedars seltsamen Brief.
Heute Mittag war ich – wie so oft – mit einem Stück Fleisch, das ich vom Essen zur Seite gelegt hatte, zum Hausmeister
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