Unerwünscht: Drei Brüder aus dem Iran erzählen ihre deutsche Geschichte
Datteln, Feigen, ein nougatähnliches Gebäck namens Gaz , getrocknete Aprikosen und Maulbeeren – wie gerne war ich in Schahmirzad auf die Maulbeerbäume geklettert und hatte sie fast kahl gepflückt –, außerdem Baklava, eine gelbe Süßigkeit namens Sohan , karamellisierter Sesam und ein Berg mundgerecht geschnittener Wassermelone. Eigentlich lief mir schon beim Anblick jeder dieser Köstlichkeiten das Wasser im Mund zusammen, aber trotzdem fasste ich nichts davon an, denn es gab auch meinen vergötterten Adschil . Adschil ist eine Mischung aus getrockneten Nüssen, grünen Rosinen, Pistazien und gerösteten Kürbis- und Wassermelonenkernen. Im Iran hatte ich diese Delikatesse nur ein einziges Mal im Jahr in die Hände bekommen: zu Nouruz , dem persischen Neujahrs- und Frühlingsfest. Seit unserer Flucht nach Deutschland war sogar das ausgefallen. Aber jetzt konnte ich alles nachholen, denn vor mir auf dem Tisch stand eine große Schüssel voller Adschil . Am liebsten hätte ich sie auf den Schoss genommen und daraus gemümmelt, doch sie wurde von strengen Augen bewacht. Eine Oma mit runzligem und mürrischem Gesicht verfolgte jede meiner Bewegungen. Das war typisch! Solche Leckerbissen wurden immer von alten Menschen behütet – als wäre das der natürliche Gang des Lebens. Selbst aßen sie nichts, aber gönnten es auch nicht den anderen – zumindest nicht denjenigen, die in ihren Augen noch Kinder waren. Schon beim ersten Mal, als ich glücklich in die Schüssel gegriffen hatte, war ich von ihr brummig ermahnt worden: » Bi-adabi-e! « – Lass erst die Erwachsenen essen! Ich hatte ihr zugenickt und mich artig auf meinen Stuhl gesetzt. Aber das war bloß eine raffinierte Täuschung. Das jahrelange Ringen um die Schüssel hatte mich die Schwachstelle aller iranischen Omas gelehrt: ihre Blase. Und weil sie außerdem notorische Teetrinker waren, musste ich nur geduldig warten, bis ich mir die Hosentaschen vollstopfen konnte.
Heute kam mir dieses Spielchen sehr gelegen, denn so verging die Zeit schneller. In mir breitete sich eine unkontrollierbare Vorfreude aus. Mit jeder Minute, die ich am Tisch saß, wurde meine Aufregung größer und ließ sich auch mit Nüssen und Früchten nicht beschwichtigen. Zweieinhalb lange Jahre hatte ich darauf gewartet und gleich war es so weit – unsere Familie würde wieder komplett sein. Pedar hatte es endlich nach Deutschland geschafft. Er hatte einen Schlepper gefunden, der ihn zu uns bringen konnte.
Zu diesem Anlass veranstaltete Scholeh eine Feier bei sich zu Hause in Hannover. Sie wollte uns damit eine Freude machen, genau wie damals, als sie uns nach unserer Ankunft in Deutschland abgeholt und schließlich sogar nach Münster gefahren hatte. Milad, Masoud und ich saßen in ihrem Wohnzimmer und stopften uns die Bäuche voll, Madar redete mit den anderen Gästen. Scholeh hatte mehr als zwanzig eingeladen.
Es war ein besonderer Tag. Wir waren weit weg vom Asylbewerberheim, von Problemen in der Schule und von der Sorge, ob wir die monatliche Rate für unseren Anwalt zusammenbekamen. Inmitten dieser Leute, versunken im lauten Stimmengewirr und berauscht von der Sehnsucht, Pedar wiederzusehen, fühlte ich mich sonderbar. Fast wie ein normaler Mensch.
Dabei lag der Beweis dafür, dass es nicht so war, in Madars Handtasche: die Genehmigung von der Ausländerbehörde, dass wir ausnahmsweise nach Hannover fahren durften. Zur Normalität der Asylbewerber, und damit auch zu unserer, gehörte nämlich die sogenannte Residenzpflicht. Sie verbot, dass wir das Münsterland ohne Erlaubnis verließen. Wie eine gläserne Mauer sperrte sie uns ein. Wenn sich meine Mitschüler am Wochenende in Osnabrück, das nur zwanzig Kilometer von Lengerich entfernt lag, für einen Kinobesuch oder zum Einkaufen verabredeten, blieb ich zurück. Am Anfang musste ich jedes Mal erklären, warum ich nicht mitgehen durfte. Mittlerweile fragte mich schon niemand mehr. Mit dem Schrieb in Madars Tasche hatten wir die Erlaubnis erhalten, unseren Vater wiederzusehen. Aber das hätte ich auch ohne einen Behördenstempel getan. Was würde Pedar denken, wenn er mit der Flucht sein Leben aufs Spiel setzte, wir uns aber von einer lächerlichen Genehmigung abschrecken ließen? Außerdem waren wir auch illegal nach Deutschland geflohen. Madar fuhr ohnehin alle zwei bis drei Wochen unerlaubt nach Hannover. Sie engagierte sich mit Scholeh und vielen anderen der heutigen Gäste in exilpolitischen Organisationen.
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