Unerwünscht: Drei Brüder aus dem Iran erzählen ihre deutsche Geschichte
und liefen mir kichernd hinterher. Masoud war bei mir gewesen – wie konnte er das vergessen? Und es gab noch mehr, woran er sich erinnern müsste. Im Sportunterricht glotzten sie meine behaarten Beine an und ahmten Affenschreie nach. Seitdem trug ich nur noch lange Sporthosen, auch wenn ich darin total schwitzte. Keines der Blagen hatte die geringste Ahnung, was wir durchmachen mussten. Sie hatten ja ihre Familien, ihre Freunde und ein perfektes Zuhause. Wir hatten nur uns selbst. Nicht einmal unser Vater war da. Am liebsten hätte ich seinen Brief von heute mitgenommen und der gesamten Klasse laut vorgelesen, aber sie würden ihn ja sowieso nicht verstehen. Sie verstanden gar nichts, nichts von unserem Leben.
Am nächsten Morgen klopfte es an unserer Wohnungstür. Ich machte auf und Carinas Eltern grüßten mich. Zu zweit trugen sie einen klobigen Fernseher, der zwar älter, dafür aber um einiges größer war als unser Gerät im Iran. Ich war aufgeregt und freute mich auf die ersten Bilder, die über die Scheibe flimmern würden – nicht so sehr, weil ich das Fernsehprogramm vermisste, sondern vor allem, um in der Schule mitreden zu können.
Wir gingen ins Wohnzimmer und stellten den Kasten auf zwei Holzstühle, die wir aneinandergerückt hatten. Alle umzingelten das Gerät und wandten den Blick nicht davon ab, als könnte das Ungetüm jeden Moment davonlaufen. Auf einmal hörte ich hinter mir eine Stimme, die mich erstarren ließ. Carina. Niemand hatte mir gesagt, dass sie mitkommen würde. Ich drehte mich nicht um und tat so, als hätte ich nichts gehört. Masoud jedoch sprang auf und lief zu ihr. Plötzlich fühlte ich mich erneut ganz allein am Kornfeld stehen, wütend und einsam. Mein aufgeschürftes Knie begann zu zwicken und ich wäre am liebsten wieder losgerannt, aber dieses Mal saß ich in der Falle. Ich konnte nicht weg, denn Carinas Eltern mochte ich und sie würden es bestimmt falsch verstehen. Mir blieb also nichts anderes übrig, als zu hoffen, dass sie von sich aus schnell wieder verschwanden.
Doch als hätten sich alle gegen mich verschworen, fragte Madar, ob sie nicht zum Tee bleiben wollten. Ich und diese Blondine an einem Tisch – ich hätte ganz bestimmt keinen Schluck herunterbekommen. Ihre Eltern warfen sich Blicke zu und nickten verstohlen. Ich wähnte schon mein Schicksal besiegelt, da funkte Carina dazwischen: Aus dem Augenwinkel konnte ich beobachten, wie sie hastig am Ärmel ihres Vaters zupfte und ihn dazu bewegte, ihr in die Küche zu folgen. Dann stellte sie sich auf die Fußspitzen und flüsterte ihm etwas zu – doch sie sagte es so laut, dass ich es problemlos verstand: »Ich will nicht bleiben. Es ist so dunkel hier – vor allem diese hässlichen Tapeten!« Im selben Moment sah ich, wie Masouds Gesicht zu einer ausdruckslosen Maske erstarrte. Natürlich hatte er es auch gehört, schließlich stand er noch näher bei ihr als ich.
Es kam, wie Carina es sich gewünscht hatte. Sie verabschiedeten sich, die Wohnungstür fiel zu und der Schlag hallte durch das Schweigen, das sich zwischen uns breitgemacht hatte. Eigentlich sollte ich mich über ihren schnellen Abgang freuen, aber Masouds aufgelöste Miene bedrückte mich. Sie erinnerte mich an früher: Vor vielen Jahren war Masoud zum ersten und letzten Mal von Pedar geohrfeigt worden. Er hatte in der Wohnung Fußball gespielt und eine Fensterscheibe zerschossen. Pedar schlug uns nie, aber an dem Tag war er schon ziemlich frustriert von der Arbeit gekommen und verlor die Geduld, als das Glas klirrend zerbarst. Die Ohrfeige hatte Masoud gelähmt. Damals hatte ich ihn an die Hand genommen und wir versteckten uns unter unserem Bett. Während ich dort tröstend seinen Kopf streichelte, waren ihm stille Tränen über die Wangen gekullert.
Heute, viele Jahre später und an einem völlig anderen Ort, sah ich wieder jenes Gesicht vor mir. Ich musste etwas tun. Ihm zeigen, wie sehr ich ihn mochte. Also sauste ich zum Kleiderschrank im Schlafzimmer, holte einen kleinen Leinenbeutel heraus, in dem ich mein gespartes Geld aufbewahrte, und leerte ihn auf das Bett. Ich zählte zweiundzwanzig Mark. Zu wenig. Hätte ich doch fleißiger Vokabeln gelernt. Dann rannte ich zu Milad, der täglich eine ganze Mark für die neu erlernten Wörter bekommen hatte. Aber er wollte mir nichts leihen, bevor ich ihm nicht von meinem Plan erzählte. Verschwörerisch weihte ich ihn ein und nahm ihm das Versprechen ab, kein Wort zu verraten.
Ich sprang
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