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Unerwünscht: Drei Brüder aus dem Iran erzählen ihre deutsche Geschichte

Unerwünscht: Drei Brüder aus dem Iran erzählen ihre deutsche Geschichte

Titel: Unerwünscht: Drei Brüder aus dem Iran erzählen ihre deutsche Geschichte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mojtaba Milad; Sadinam Masoud; Sadinam Sadinam
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roch ungewohnt. Ich nahm meinen Kopf von seinem Brustkorb und schaute ihm ins Gesicht. Er war zwar dürrer als in meiner Erinnerung und sein Haar war grau meliert, aber seine dunklen Augen hatten sich nicht verändert. Sie schauten mich noch genauso an wie früher, als er mich freitagmorgens zum gemeinsamen Frühstück geweckt hatte. Es war schön und gleichzeitig merkwürdig, ihn nach so langer Zeit wiederzusehen. Ich hätte gerne etwas gesagt und rang um passende Worte, aber es fiel mir nichts ein. Deshalb war ich erleichtert, als Madar ins Wohnzimmer kam und das Essen ankündigte.
    Auf jeder iranischen Feier war dies das Signal, das ein lebhaftes Treiben auslöste. Als hätten die Gäste diesen Moment Tausende Male durchgespielt, nahm jeder seine Aufgabe wahr: Einige breiteten auf dem Boden eine lange Tischdecke aus – das nannte man Sofreh . Andere bedeckten sie mit Besteck und Geschirr. Die Gläser wurden mit Getränken gefüllt, aber natürlich bildeten die Essensträger den Höhepunkt: Sie servierten safrangelben Reis in großen Schalen, dann verschiedene Soßen mit Hähnchen und Lammfleisch und schließlich das, wonach alle Iraner verrückt waren: Tahdig , eine leckere Reiskruste, die mich allein mit ihrem Duft betörte.
    Wir nahmen an der Sofreh Platz, genau wie früher: Pedar links, Madar rechts und wir drei dazwischen. Dann begann das große Essen mit Klappern und Klirren. Es wurde geschmatzt und geredet, und das sehr laut und meistens zur selben Zeit. In meinen Ohren klang es fast, als würden sich die Leute anbrüllen, doch das war eben die Art, wie sich Iraner auf einer Feier unterhielten. Ich sah vor allem meine Lieblingsgerichte und konnte sie gar nicht schnell genug verschlingen, doch Pedar fasste gar nichts an. Er war nur auf uns drei fixiert und schaufelte unsere Teller voll, sobald wir eine Ecke frei gegessen hatten. Dabei fragte er uns nicht, ob wir noch Hunger hatten. Jedes Mal, wenn ich etwas sagen wollte, unterbrach er mich mit den Worten: » Nusche jan! « – Lass es dir schmecken! Für die anderen um uns herum entsprach dies dem üblichen Tarof , einer höflichen Geste, mit der Iraner beim Essen andere ungebeten mit Nachschub versorgen, um ihre Gastfreundschaft unter Beweis zu stellen. Pedar aber ging es um mehr. Wahrscheinlich war er einfach nur glücklich, uns wiederzusehen, doch ich wurde das Gefühl nicht los, dass noch etwas anderes in ihm rumorte.
    Genauso unvermittelt, wie er heute aufgetaucht war, war er vor zweieinhalb Jahren aus unserem Leben gerissen worden. All die Zeit hatte ich nichts von seinem Leben mitbekommen und er hatte eine sehr bedeutende Phase unseres Lebens verpasst: Das Untertauchen bei Chaleh Laleh, die Sorge um Madar und die Angst vor der iranischen Staatsgewalt, unsere illegale Flucht und dann die unerfreuliche Ankunft in Münster, schließlich das Asylbewerberleben in Lengerich. Wenn ich mich mit dem Mojtaba vor zweieinhalb Jahren verglich, dann kam ich mir mittlerweile fast schon erwachsen vor. Ich wusste nicht, ob es an den vielen Schwierigkeiten lag, die wir hatten durchstehen müssen. Aber wir waren nicht mehr die drei kleinen Jungs von damals, die in ihrer naiven Kinderwelt lebten. Womöglich ahnte unser Vater genau das und fürchtete, uns fremd geworden zu sein.
    Nach dem Essen verschwanden er und Madar, weil sie reden wollten. Für alle anderen war Tanzen angesagt. Die Iraner sind völlig verrückt danach. Ich fand es schrecklich. Doch sich davor zu drücken ist so gut wie unmöglich: Es ist nämlich üblich, dass die Tänzer die anderen, die auf Stühlen oder direkt auf dem Boden sitzen und klatschen, mit spielerischen Bewegungen zum Mitmachen animieren. Aber ich ließ mich auch nicht widerstandslos kleinkriegen: Jedes Mal, wenn mich jemand anvisierte und aufforderte, legte ich mir theatralisch die Hand auf den Bauch, atmete schwerfällig aus und tat so, als plagten mich grässliche Bauchschmerzen. Nach dem Festmahl war das auch durchaus glaubwürdig. So eroberte ich mir einige Minuten Ruhe, bis der nächste Angreifer auf mich loswirbelte.
    Männer und Frauen hielten ihre Arme in Schulterhöhe und vollführten mit den Händen filigrane Bewegungen, dazu leichte Hüftschwünge und knifflige Schritte. Eigentlich schaute ich der ausgelassenen Truppe gerne zu. Ich wollte nur nicht selbst mitmachen – wahrscheinlich lag es daran, dass ich mir nicht vorstellen konnte, jemals genauso anmutig auszusehen wie die anderen. Ihre komplizierten Bewegungen waren

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