Unerwünscht: Drei Brüder aus dem Iran erzählen ihre deutsche Geschichte
Durch Vorträge, eine oppositionelle Zeitschrift, die sie zusammen herausgaben, und Demonstrationen versuchten sie, die Menschen hier über die Missstände im Iran zu informieren.
Ich hatte mich oft gefragt, warum Madar aus den Problemen von damals nicht gelernt hatte und sich wieder in Gefahr brachte. Jedes Mal, wenn ich sie bat, mich mitzunehmen, lehnte sie ab. Es sei zu riskant, ohne Erlaubnis zu verreisen. Sie beharrte darauf, dass ich mich lieber auf die Schule konzentrieren sollte. Ich glaubte ihr zwar, aber konnte trotzdem nicht verstehen, was sie dazu motivierte. Eines Tages, als wir zusammen in unserer gedrungenen Küche das Geschirr abspülten, hatte ich sie endlich danach gefragt. Ihre Reaktion war mir gut in Erinnerung geblieben: Sie ließ den Teller in ihrer Hand zurück ins schaumige Wasser sinken und starrte sekundenlang ins Leere. Es war, als wäre sie weit weg und nur ihr Körper hier am Spülbecken geblieben. Eine Weile dauerte es noch, dann kam sie langsam zurück – wie eine Pflanze, die erwacht, nachdem das winterliche Eis auf ihren Blättern zerronnen ist. Madar sah mir in die Augen und sagte: »Seitdem ich ungefähr so alt war wie du jetzt, habe ich viel erleiden müssen. Wegen des Schahs und der Mollas war ich gezwungen, von vielen Menschen, die ich liebte, Abschied zu nehmen. Und weil ich mich dagegen wehren wollte, mussten wir nach Deutschland fliehen. Aber jetzt ist es anders. Jetzt kann ich endlich meine Meinung sagen, ohne mich und euch in Lebensgefahr zu bringen. Ich will nicht schweigen. Das bin ich meiner Vergangenheit schuldig, aber vor allem meinen Eltern, meinen Geschwistern, meinen Freunden, die weiterhin im Iran kämpfen, und eurem Vater!«
Als Madar einige Tage später aus Hannover wiederkam und eine Kassette bei sich hatte, musste ich an ihre Worte denken. Sie hatte Radiobeiträge über die Menschenrechtssituation der Frauen im Iran aufgenommen, insgesamt fünf Sendungen. Ich hörte sie mir alle an, denn etwas in Madars Stimme faszinierte mich. Sie sprach nicht wie Moderatoren, die humorvoll unterhalten wollen, oder wie solche, die völlig teilnahmslos über tödliche Unfälle berichten. Nein, Madars Worte kamen aus ihrem Herzen. Sie fühlten sich echt an.
Plötzlich wurde ich aus meinen Gedanken gerissen, denn auf der Feier wurde es noch lauter, als es ohnehin schon war. Mir fiel es nicht schwer, den Grund dafür ausfindig zu machen: Jemand hatte eine Flasche hervorgeholt, um die sich eine aufgedrehte Gruppe von Frauen und Männern versammelte. Sie hielten kleine Gläschen in den Händen und füllten sie mit dem kastanienbraunen Flascheninhalt. Als kurz darauf die Gläser klirrend aneinanderstießen und mit einem abrupten Zug ausgeleert wurden, war ich mir sicher: Sie tranken Schnaps. Die Schnapsgläser klirrten erneut und die Gruppe schmetterte gemeinsam einen Trinkspruch: » Be Salamati-e Rischderasa! « – Hoch leben die Langbärtigen! Dann gossen sie die Flüssigkeit hinunter und brachen in lautes Gelächter aus. Bis jetzt hatte mich der Abend an Feiern im Iran erinnert, aber das – die Gläser, das Klirren und der Schnaps – passte nicht dazu. Milad, Masoud und ich grübelten über den Sinn ihres Toasts und beschlossen, dass sie die Mollas gemeint haben mussten. Sie verspotteten damit das strenge Alkoholverbot, das die »Langbärtigen« über das ganze Land verhängt hatten.
Das geräuschvolle Schauspiel wiederholte sich noch einige Male. Ich, der lange die Versuche der Mollas , mir die Existenz Gottes einzureden, hatte über mich ergehen lassen müssen, amüsierte mich über jeden weiteren Spruch, bis ich meine Brüder rufen hörte: »Pedar!« Er war da! Wie aus dem Nichts war er im Türrahmen aufgetaucht und lächelte über das ganze Gesicht. Ich blinzelte einige Male, um zu testen, ob ich es mir nur einbildete, aber Pedar verschwand nicht. Als er mit ausgebreiteten Armen zu uns kam, mich fest umarmte, meine Wangen mit stürmischen Küssen bedeckte und sein rauer Stoppelbart auf meiner Haut kratzte, gab es keinen Zweifel mehr: Pedar war wirklich bei uns! Ich erwiderte seine Umarmung, klammerte mich fest an ihn und spürte, wie Freude meinen Körper durchströmte. Vor Aufregung beschleunigte sich mein Atem und ich drückte mich noch fester an ihn. Er streichelte meinen Rücken und flüsterte unentwegt mit tränenerstickter Stimme: » Ressidam! « – Ich bin da!
Es verging eine gefühlte Ewigkeit, bis ich mich wieder beruhigte. Ich atmete tief ein. Pedar
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