Unerwünscht: Drei Brüder aus dem Iran erzählen ihre deutsche Geschichte
Madar in einen Krankenwagen. Er fuhr heulend ab. Wir folgten ihm mit Christas Auto und erreichten das städtische Krankenhaus. Es vergingen Stunden. Glaubte ich zumindest. Irgendwann kam ein Arzt und sagte, dass Madar außer Lebensgefahr sei. Meine Brüder umarmten sich und lächelten. Doch ob auch ich erleichtert war, konnte ich kaum sagen. Alles fühlte sich so taub an. Zu Hause war es sehr still. Ich ging in Madars Zimmer – und starrte auf ein Loch in der Wand. Mojtaba hatte es vorhin mit seiner bloßen Faust eingeschlagen.
8
Eintrittskarte ins Leben
MOJTABA Es war die blanke Wut, die mich gepackt und meine Faust gegen die Wand hatte schlagen lassen. Madars tränenüberströmtes Gesicht, die Tablettenschachtel, eine Überdosis Schlafmittel in ihrem Körper – ich meinte zu wissen, wer daran schuld war. »Wir werden Ihnen jeden Grund nehmen, hierbleiben zu wollen«, hatten die Sachbearbeiter der Ausländerbehörde gesagt. Sie wollten uns das Leben so lange zur Hölle machen, bis wir uns bereitwillig abschieben ließen. Als sie Madar die Ausbildung verboten und damit ihre letzte Hoffnung auf eine bessere – eigentlich überhaupt auf eine – Zukunft nahmen, erreichte die Zermürbungstaktik ihren Höhepunkt. Das Loch in unserer Wand hätte eigentlich in die Wand der Ausländerbehörde gehört. Ich wollte Madar rächen, ihnen die Qualen der letzten Jahre heimzahlen. Aber was hätte es gebracht? Jeder Beamte, jeder Richter, jeder Sachbearbeiter trug nur einen Teil zum Ganzen bei. Keiner von ihnen war unschuldig, aber auch niemand allein verantwortlich für unsere Situation. Auf wen oder was hätte ich einhämmern sollen? Jeder behauptete, »ja nur seine Arbeit« zu tun. Es war die perfekt organisierte Verantwortungslosigkeit.
Ich musste mir etwas eingestehen, auch wenn es schmerzte: Ich konnte an meiner Wut nicht festhalten. Sie löste sich auf und ihr wildes Toben in meinen Ohren verhallte. Bald schwanden auch die Kratzer und Schürfwunden an meiner Hand. Stattdessen ergriff mich ein Gefühl der Machtlosigkeit. Wir hatten getan, was wir konnten. Jeden einzelnen Tag. Aber alle Wege schienen versperrt, niemand wollte uns noch anhören. Wir blieben zurück – ganz allein. Ich glaube, dass Madar genau das erkannt hatte, als sie die Tabletten nahm.
Madars Suizidversuch jagte uns eine ungeheure Angst ein. Jetzt waren es nicht mehr bloß die schwarzen Gestalten, die uns im Schlaf hätten überrumpeln können. Nun drohte unsere Gemeinschaft auch von innen heraus zu zerbrechen. Wir hatten seit der Flucht vor den Pasdaran beinahe jeden Tag zusammen verbracht. Und egal wie bedrohlich und unsicher jeder von ihnen war, es gab immer eine Gewissheit: Wir vier hielten zusammen. Wie eine Brüstung schützte uns der Zusammenhalt davor, aufzugeben und tief zu stürzen. Ich hatte schon vergessen, wie es sich anfühlte, einsam zu sein. Aber was wäre passiert, wenn Madar die Überdosis nicht überlebt hätte?
Später erklärte sie uns, dass sie durchaus wusste, was sie sich selbst und auch uns antat, als sie die Tabletten schluckte. Sie nahm die Konsequenzen in Kauf, weil sie um jeden Preis das Schlimmste verhindern wollte: unsere Abschiebung in den Iran.
Unsere Mutter war weder schwach noch feige und hatte immer genügend Willenskraft besessen, um gegen Probleme anzukämpfen. Auch dieses Mal hatte sie sich wehren wollen – aber womit? Sie verfügte über nichts anderes mehr, als über ihr Leben, ihre physische Existenz. Im Grunde war es schon seit dem ersten Tag in Deutschland so. Mit unserer Anmeldung in Hannover begann man über uns zu entscheiden. Natürlich bedrückte es uns damals, immer der »Ausländer« zu sein. Am Rand der Gesellschaft zu leben, ohne die Sprache der anderen zu verstehen, ohne ausreichende Kenntnisse über ihre Kultur und ohne die finanziellen Möglichkeiten, einen teuren Anwalt zu bezahlen. Aber die Abhängigkeit, das Gefühl, ständig dem Willen anderer zu unterliegen, quälte uns am meisten.
Als Asylbewerber mussten wir für jede Kleinigkeit um Erlaubnis bitten. Sogar ein Arztbesuch war nicht selbstverständlich. Wenn ein Sachbearbeiter unsere Bitte ablehnte, überspielten wir unsere Erbitterung mit einem gekünstelten Lächeln. Denn wir durften ihn nicht verstimmen, wir waren ja auf ihn angewiesen. Wir verhielten uns wie Bettler, die immer wieder ihre Arme austrecken und nach einer Münze flehen, obwohl ihnen in die nackte Hand gespuckt wird.
Und auf einmal passierte es, still und leise,
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