Unerwünscht: Drei Brüder aus dem Iran erzählen ihre deutsche Geschichte
könnte, die ihr Leid linderten, ob es überhaupt solche Worte gab. »Vielleicht ist es das Beste, wenn sie etwas schläft«, schlug ich vor. Masoud und Mojtaba nickten und wir setzten uns ins Wohnzimmer.
Niemand sprach. Nach einer Weile holte Masoud die zerknitterten Formulare, die wir unterschreiben sollten, aus seiner Hosentasche heraus. Er überflog sie, dann zerriss er sie hastig und warf die Papierfetzen auf den Boden.
Mojtaba stemmte sich vom Stuhl hoch. »Ich bringe Madar Wasser.« Kurze Zeit später kam er mit einem vollen Glas zurück. »Sie hat die Tür abgeschlossen«, sagte er unruhig. »Und antwortet nicht.«
»Es wird ihr bald besser gehen. Lass sie sich ausruhen«, versuchte Masoud ihn zu beruhigen.
»Ich rufe Christa an«, sagte er und griff zum Telefonhörer.
In der Stille, die sich dann wieder breitmachte, merkte ich meine Erschöpfung. Ich lehnte meinen Kopf zurück und schloss die Augen. Aber anstatt zu entspannen, überkamen mich die Bilder von vorhin: Madars Zusammenbruch, ihr schwacher Körper, der von meinen Brüdern gestützt werden musste.
Ich konnte mir nicht vorstellen, wie Madar diesen Schlag überwinden sollte. Manchmal kam es mir vor, als wäre die Ausbildung Madars letzte Hoffnung auf ein besseres Leben. Die Medizin war nicht nur ihr Kindheitstraum, sondern die einzige Chance, unserem alltäglichen Wahnsinn zumindest für ein paar Stunden zu entkommen. Zu Hause wartete nur noch die Angst vor der Abschiebung. Bei jeder Mahlzeit, bei jedem Gespräch, bei jedem Telefonat redeten wir darüber. Um dem Thema zu entfliehen, blieb Madar nur die harte Arbeit im Krankenhaus. Die Morgenstunden bei der Ausbildung waren für sie das, was für mich die Schule war: die Flucht in eine andere Welt. Mit Menschen, die von all dem nichts wussten, und wo wir so tun konnten, als wäre alles in Ordnung.
Es klopfte an der Haustür. Ich öffnete wieder die Augen. Wir eilten hin und wie erhofft war Christa da. »Hey, wie geht es euch?«, fragte sie liebevoll.
»Madar geht es nicht gut«, antwortete Mojtaba.
»Ab morgen darf sie nicht mehr zu ihrer Ausbildung«, fügte ich hinzu.
»Ich weiß. Hat mir dein Bruder am Telefon schon erzählt. Wir werden das nicht akzeptieren. Wo ist sie jetzt?«
Wir zeigten in Richtung ihres Schlafzimmers und Christa machte sich auf den Weg.
Kurz nachdem wir die Haustür geschlossen hatten, klopfte es erneut. Vor uns stand ein unbekannter Mann, der sich als Mitarbeiter des Ordnungsamts ausgab. »Ich habe einen Anruf vom Arzt eurer Mutter erhalten. Er hat vor einigen Minuten mit ihr telefoniert und ist sehr besorgt. Ich möchte sie sofort sehen!«
»Was ist denn los?«, frage Masoud verwirrt.
»Bitte führt mich zu ihr. Wir dürfen keine Zeit verlieren.«
Wir liefen zu ihrem Schlafzimmer. Die Tür war noch immer abgeschlossen und Christa stand davor.
»Madar, mach bitte auf!«, rief Mojtaba.
Keine Antwort. Er rannte ins Wohnzimmer und kam mit einem zweiten Schlüssel zurück. Sie waren für alle Zimmer gleich. Er versuchte die Tür zu öffnen, aber ohne Erfolg. Ein anderer Schlüssel steckte von innen im Schloss.
»Madar, sag doch was«, flehte Masoud und klopfte. Wieder nichts.
Mojtaba rüttelte an dem Schlüssel, um den anderen irgendwie herauszubefördern. Er rüttelte noch heftiger. Dann fiel etwas herunter. Er drehte den Schlüssel um und die Tür ging auf.
Madar lag zusammengekauert auf ihrem Bett – wie ein Embryo im Mutterleib. Sie schluchzte. Neben ihr eine Tablettenpackung. Ich stand da und schaute sie an, aber ich war zu keiner Regung fähig. Masoud, Mojtaba und Christa rannten zu ihr, nahmen ihre Hand. Doch mein Körper wollte sich nicht rühren. Alles in mir war plötzlich wie tot. Ich hörte, wie Madar unter Tränen erzählte, dass sie viele Tabletten geschluckt habe. Sie zitterte am ganzen Körper. Masoud drückte sie an sich. Ich drehte mich weg und rutschte an der Wand im Flur herunter. Dann krachte es laut und Mojtaba stampfte brüllend aus dem Zimmer. Von seiner Hand tropfte Blut. Auch Christa eilte hastig in den Flur und wählte eine Nummer auf ihrem Handy. Mein Kopf war leer, die Stimmen um mich klangen dumpf – wie aus einer fernen Welt.
Ich sah zwei Männer in roten Uniformen. Sie fragten mich, wo unsere Mutter sei. Christa zeigte ihnen den Weg. Masoud und Mojtaba halfen Madar in den Flur. Ihre Beine schienen das Körpergewicht kaum tragen zu können. Sie legten sie auf eine Trage. Ich folgte den anderen nach draußen. Sie schoben
Weitere Kostenlose Bücher