Unfassbar für uns alle
Sie mal...»
Nach kurzem Suchen hatte er alles gefunden. Ich überflog die wichtigsten Daten.
Name: v. Woerzke
Vorname: Waldemar
Geburtstag und Ort: 23.1.1928, Friedrichsheide Kreis: Oranienburg
Beruf: Schüler
Ort der Festnahme: Friedrichsheide
Straftat: Aktive Teilnahme an einer untergrundterroristischen Organisation, Sammlung u. Übergabe von Spionagenachrichten f. einen ausl. Staat
Verurteilendes Gericht: Militärtribunal d. Sow. Armee
Verurteilt am: 6. 5.1946
Strafdauer lt. Urteil: 10 Jahre Arbeitslager
Grundsätzliche Bemerkungen für die Beurteilung der Gefangenen: Der umseitig Genannte war in der hiesigen Strafanstalt (Sachsenhausen) inhaftiert gewesen und ist hier am 14.11. 1946 verstorben.
Todesursache: Herz- und Kreislaufschwäche.
Diagnose: Bauchwassersucht.
Was blieb mir anderes, als zu schweigen. Wer schloß denn aus, daß ich nicht selber eines Tages in einem solchen Lager saß und starb. Wenn Schirinowski und seine deutschen Helfershelfer... Nichts schien ja mehr undenkbar zu sein.
Ich mußte mich zwingen, zu Waldemar Woerzke und Luise Tschupsch zurückzukehren. Da hatte sie fast fünfzig Jahre für ihn und mit ihm gelebt, in Gedanken und in einer virtuellen Welt, und war dann einen Tag vor seiner Rückkehr nach Deutschland gestorben.
Ein Drama für Heiner Müller oder eine Serie für Felix Huby – der Stoff gab beides her.
Oder ein Mordfall für mich...
Ich fixierte Ludger Tschupsch. «Wir haben uns natürlich kundig gemacht... Da sind einige Vorstrafen aus den USA, alles Gewaltdelikte, aggressive Schübe. Wenn Sie mir bitte mal darlegen würden, wann Sie Ihre Schwester zuletzt gesehen haben und was Sie am Tattag in der Zeit von, sagen wir, 19 bis 23 Uhr alles so gemacht haben...»
Ludger Tschupsch mußte ein Weilchen nachdenken. «Ich habe bei Sergej geschlafen, in der Uhlandstraße 123, und bin dann zu Fuß zu Luise her, ’ne knappe halbe Stunde. Dann haben wir noch zusammen gefrühstückt, und sie ist nach Oranienburg gefahren. Zu ’ner ehemaligen Klassenkameradin, Ingeborg Bückwitz oder so...»
«Bücknitz, ja. Und Sie selber?»
«Ich hab hier gelegen, meine Mitbringsel aus Moskau geordnet, mit ein paar Geschäftspartnern telefoniert und dann ferngesehen und geschlafen.»
«Und abends?»
«Bin ich mit der S-Bahn durch Berlin gefahren.»
«Allein?»
«Mit ein paar Flachmännern in der Tasche. Ich sauf mir öfter mal einen an und fahr dann umher. Ich hatte mal ’n hochbezahlten Job, ich hatte mal ’ne Zukunft, ich hatte mal eine hübsche Frau und zwei intelligente Kinder – jetzt hab ich nur noch meinen Doppelkorn und die Berliner S-Bahn. Aber einen IQ von 140, 150. Womit ich in der öffentlichen Verwaltung nie einen Job kriegen würde... 50 Punkte zu hoch.»
Einerseits tat er mir leid, andererseits konnte ich ihn partout nicht ausstehen. Er war einer von der Sorte, die auch als Stadtstreicher noch eine unheimliche Arroganz an den Tag legen konnte. Nicht ich bin das arme Schwein, denn ich bin frei und kann stolz darauf sein. Du aber verkaufst dich Tag für Tag und läßt dich erniedrigen.
«S-Bahn, ja, mit der S 1 nach Oranienburg, Ihrer Schwester hinterher ...?»
«Sagte ich nicht, daß ich einen IQ habe, der 50 Punkte über dem eines normalen Beamten liegt...»
18. Szene
Gransee
Ich war richtig neidisch auf Yaiza Teetzmanns neuen lover aus Gransee. Ich hatte sie leider nur als Kollegin. Zwar machte er lausige Reklame für seinen Laden (‹ Spare Zeit, fahr nicht weit – gleich Elektro-Pritzkoleit›), aber als Heimatforscher war Enrico große Klasse.
Wir hatten bei ihm zu Hause Kaffee getrunken und den Kuchen gegessen, den Yaiza aus Oranienburg mitgebracht hatte, und spazierten nun ein wenig durch die Stadt. Ich durfte Sylvesters Kinderwagen schieben.
Wunderschön die Backsteingotik der Marienkirche, noch schöner die tiefe Symbolik ihrer einen Glocke. Enrico Pritzkoleit erklärte uns das alles.
«Bei der großen Feuersbrunst 1771 stürzen alle Glocken nieder und ihre Bronze schmilzt zusammen. Daraus macht dann der Glockengießer J. Jacobi in Berlin vier neue Glocken, und auf die eine kommt eine wunderschöne Inschrift: (Gleiche Glut zerstörte mich, / Gleiche Glut erneute mich...›»
Heike fand, das sei möglicherweise eine Verherrlichung des Krieges, fein versteckt, aber dennoch. «So wie der Mephisto. Der versteht sich auch als ‹Ein Teil von jener Kraft, / Die stets das Böse will und stets das Gute schafft.›»
Das war uns allen zu hoch,
Weitere Kostenlose Bücher