Unfassbar für uns alle
eingeschlossen, wäre den ganzen Tag über im Bett geblieben, die Decke über den Kopf gezogen. Wenn ich keinen sehe, kann mich auch keiner sehen. Es war eine fixe Idee, ich wußte es, doch ich hatte ständig das Gefühl, Kopfhörer über den Ohrmuscheln zu haben und aus einem unsichtbaren Walkman den immer gleichen Text zu hören: «Der Mensch versuche die Götter nicht... Laß Woerzke in Ruhe! Sie bringen dich um!»
Ganz schlimm wurde es, als ich den dunklen Hochhausblock in Friedrichsfelde vor mir sah, in dem seit Beginn des Jahres – neben einigen Behörden – die Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege, die FHVR, ein neues Domizil gefunden hatte. Es war die ehemalige Stasi-Bezirksverwaltung Berlin, in der nun der gesamte gehobene Dienst des Stadtstaats herangebildet wurde, die Beamten der allgemeinen nichttechnischen Verwaltung ebenso wie die Rechtspfleger, die Steuereintreiber und die Polizisten, Schupo und Kripo. Mich hatte das Projekt «Neubau von Verwaltung und Polizei in Ostberlin und Brandenburg» als eine Art «Zeitzeugen» eingeladen, und obwohl es keinen Pfennig dafür gab, war ich von Neukölln aus zum Tierpark gefahren.
Ich machte mich auf die Suche nach dem Hörsaal 6B168. Alles war noch eine ziemliche Baustelle. Radlader rasten umher, Bulldozer schoben Sandberge zur Seite, Rüttelmaschinen täuschten kleinere Erdbeben vor. Maler waren noch am Überrollen der Wände, Mechaniker verschraubten Geländer und Deckenelemente, Teppichverleger robbten über die Böden, Elektriker hingen auf ihren Leitern und zogen Drähte aus den Kabelschächten. Zwischen allen wuselten Studentinnen und Studenten umher.
Ich hätte einfach fragen können, wo dieser verdammte Hörsaal 6B168 denn sei, aber das verstieß gegen mein heiliges Prinzip, solche Probleme als detective alleine zu lösen.
Langsam begriff ich auch die Struktur dieser Anlage. Wie ein großes L umfaßten die alten Stasi-Gebäude, die düsteren Hochhäuser mit ihren Waschbetonplatten an den Fassaden, das gesamte Gelände, und in der Mitte dieses L’s hatte man – völlig neu und in blendendem Weiß – den Hörsaaltrakt errichtet. Ein gläserner Übergang verband die beiden Teile. Ich war erleichtert, soweit alles durchschaut zu haben.
Ein überdachter Innenhof spaltete den Hörsaalkubus in zwei Hälften. Das erklärte auch das B. Meinte also die 1 in der Hörsaalcodierung wahrscheinlich die 1. Etage.
Ich blieb stehen, um noch einmal in meiner Einladung nachzusehen, ob 6B168 wirklich richtig war. Dabei hatte ich das sichere Gefühl, daß hinter meinem Rücken einer stand und mit einer Waffe auf mich zielte. So einer Laserpistole, wie man sie in Science-fiction-Filmen sah.
Verfolgungswahn, schizophrene Schübe...
Ich fuhr herum und sah Ludger Tschupsch, vielleicht zehn Meter hinter mir. Sofort war ich neben ihm.
«Wie kommen Sie denn hierher. ..?»
«Mit dem Wagen da...» Er zeigte auf einen VW-Transporter, auf dessen Dach bündelweise blanke Kupferrohre lagen. In allen Regenbogenfarben war der Firmenname aufgeklebt.
GWH – Roland Anders
Gas- & Wasserinstallation / Heizungsbau
16515 Oranienburg
24 Stunden-Havariedienst
Fast hätte ich ihn gefragt, wo er das Fahrzeug gestohlen habe. «... ich sehe da immer noch keinen Zusammenhang...?»
«Und das als Kripo-Mann...» Ludger Tschupsch schüttelte den Kopf. «Ganz einfach: Ich bin da beschäftigt. Ich bin Ingenieur und hab da ’ne Stelle bekommen. Erst mit der NASA zum Mars, dann mit Roland Anders als Gas-Wasser-Scheiße-Monteur. Es kommt immer anders, als man denkt. That’s life!»
Zu schön, um wahr zu sein. Viel wahrscheinlicher war, daß ihm seine connection aus irgendwelchen Gründen diese Rolle verschafft hatte. Vielleicht um den großen Coup mit dem falschen Waldemar besser abzusichern, vielleicht um mich an dessen Enttarnung zu hindern. Soviel an Zufall gab es nicht.
Ich sah Ludger Tschupsch ein wenig spöttisch an, bemühte mich um denselben Ton wie er. «Hat das Erbe Ihrer Frau Schwester nicht für ein sorgenfreies Leben gereicht...?»
«Ich hab bis jetzt nicht viel gefunden.»
«Als alleinstehende Oberstudienrätin müßte sie doch in all den Jahren einiges angehäuft haben...?» Ich verstand das nicht.
«Sie ist viel verreist, sie hat viel gespendet...»
«Schön...» Ich brach ab, weil mir jemand von hinten auf die Schulter geklopft hatte. Mein alter Westberliner Kollege Thomas Hundt, der inzwischen im Referat O (Organisierte Kriminalität) Karriere
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