Ungeahnte Nebenwirkungen
erklären, wenn man sich die drei Schichten des menschlichen Seins vor Augen hält«, erklärte sie.
Na, da bin ich ja mal gespannt, dachte Nicole sarkastisch. Eigentlich hatte sie längst genug von dieser Wunderfrau Michaela gehört. Die Eifersucht in ihr kochte, sie würde demnächst überkochen und sie innerlich verbrühen. Der Anstand gebot Nicole jedoch, Alice weitersprechen zu lassen. Zudem hätte die an sich nette Person wohl kaum Verständnis für ihre Reaktionen aufgebracht, wäre sie jetzt wutentbrannt aus dem Lokal gestürmt.
Alice hatte sich wieder zurückgelehnt. Sie drehte die leere Tasse in den Händen und schien sich ihre Worte sorgfältig zurechtzulegen.
»Die erste Schicht ist die äußere Schicht, die sich für den Schutz und die Kompensation zuständig zeichnet. Wenn wir uns in dieser Schicht befinden, sind wir im Zustand der Verteidigung. Wir sind bemüht, nichts an uns heranzulassen, unsere zweite Schicht zu schützen. Die zweite Schicht ist nämlich sehr emotional, wir nennen sie ›das innere Kind‹, das sich eben nicht verteidigen kann, nicht sicher genug ist, um es mit der Welt aufzunehmen. Wenn das innere Kind zum Vorschein kommt, reagieren wir nur noch mit Emotionen, mit unkontrollierten Gefühlen. Wir toben, schreien, weinen, geraten im wahrsten Sinne des Wortes außer Kontrolle. Diese Schicht gilt es zu schützen, da die Konsequenzen, wenn wir sie zum Zug kommen lassen, für erwachsene Menschen durchaus einschneidend sein können.« Alice machte eine Pause. Sie sah sich nach dem Kellner um. Als er sich schließlich an ihren Tisch bemühte, bestellte sich Alice ein Mineralwasser.
Nicole indessen wartete ungeduldig auf die weiteren Ausführungen der Psychologin. Sie war gespannt, was denn nun in der dritten Schicht passierte und fragte sich, ob sie vielleicht als durchschnittlich gebildeter Mensch eine Chance hätte, aus den neuen Erkenntnissen etwas für ihre Beziehung mit Mirjam zu lernen.
Nach einem tiefen Schluck aus ihrem Glas lüftete Alice endlich das Geheimnis der dritten Schicht: »Die dritte Schicht nennt man ›Innere Schicht‹. Es ist die Schicht der Präsenz und Aufmerksamkeit. Wenn wir uns in diesem Bereich unseres Seins befinden, sind wir achtsam und bewusst. Wir treten sozusagen zurück, gehen auf Distanz zur Emotionalität unseres inneren Kindes und brauchen uns so auch nicht zu verteidigen oder zu schützen. Diesen Zustand der Bewusstheit zu erreichen ist nicht für alle Menschen gleich einfach oder schwierig. Es bedarf einer gewissen Ausgeglichenheit auf der einen Seite und auch der Erfahrung, dass das Leben für jeden andere Aufgaben bereithält, um sich selbst nicht im Mittelpunkt zu sehen. Wenn wir uns zwar schätzen, als wertvoll ansehen – aber eben nicht als das Einzige, das diese Welt in Bewegung hält – dann können wir auch mit unserer Verletzlichkeit besser umgehen. Jeder und jede trägt alle Schichten in sich und jede und jeder lebt je nach Situation die eine oder andere stärker aus.«
Die Pause, die Alice hier einschob, war strategisch außerordentlich clever. Nicole brauchte einen Moment Zeit, um die vielen Informationen wenigstens ansatzweise zu verdauen. Sie fragte sich, in welcher Schicht sie sich im Moment befand. Sicher nicht in der dritten, entschied sie, dazu fühlte sie sich viel zu aufgewühlt. Sie bemühte sich, gefasst und interessiert zu wirken, doch es bereitete ihr erhebliche Schwierigkeiten. Noch hatte sie nicht erkannt, was diese ominösen Schichten mit ihr oder mit Mirjam zu tun haben sollten, denn bis jetzt klang alles noch sehr nach Einheitsbrei, nach allgemeingültigen Einsichten, mit denen sie aber in ihrer Situation nichts anzufangen wusste.
»Bei Mirjam ist das durch den plötzlichen Tod Michaelas etwas schwierig«, hörte Nicole Alice sagen. Endlich kam sie auf den Punkt!
»Dieses Ereignis versetzte sie in einen tiefen Schock, den sie nicht überwinden konnte. Ihr inneres Kind hätte schreien, weinen und toben wollen, doch da sie erwachsen war, durfte sie dies nicht zulassen, darf es noch immer nicht. Deshalb agiert Mirjam dauernd in der ersten, äußeren Schicht. Sie verteidigt ihr inneres Kind mit letzter Konsequenz, sie schützt ihre Gefühle. Sie lässt niemanden hinter die Fassade blicken, um nicht noch einmal in Gefahr zu geraten, auf solch einschneidende Weise verletzt zu werden.
Nicht, dass sie sich ihrer Gefühle nicht bewusst wäre. Mirjam besitzt viele, sehr feine Antennen für ihre eigene Befindlichkeit
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