Ungeahnte Nebenwirkungen
und vor allem auch für die ihrer Mitmenschen, doch sie meidet jedes Risiko, sich in eine Verantwortung zu begeben. Niemand soll ihr so nahe kommen, dass es sie treffen würde, wenn dieser Jemand wieder geht – auf welche Art auch immer.
Mit dieser Verteidigungshaltung nimmt sie sich aber auch die Möglichkeit, ihre dritte Schicht zu leben. Sie kann gar nicht in den Zustand der Bewusstheit und Achtsamkeit kommen, weil sie zu sehr mit Schutz beschäftigt ist.«
Soweit war alles klar, dachte Nicole, doch was konnte sie dagegen tun? Sie fragte Alice: »Gibt es denn eine Möglichkeit, Mirjam zu zeigen, dass nicht bei allen Menschen diese Verteidigung vonnöten ist?«
Alice nickte. Sie hatte die Frage offenbar erwartet. »Wahrscheinlich wird sich Mirjam nie wieder einem Menschen so öffnen wie Michaela, doch das wäre auch unter anderen Umständen eher unwahrscheinlich gewesen. Mirjam hat aber Fortschritte gemacht.« Alice lachte auf und schüttelte den Kopf: »Ich höre mich wirklich wie eine Psychologin an, die über einen Patienten spricht!«
»Irgendwie ist doch Mirjam eine Patientin«, wandte Nicole ein, die endlich etwas hören wollte, das sie umsetzen könnte.
Alice nickte. »Jedenfalls scheint sich Mirjam tatsächlich zu öffnen. Das erste Mal habe ich das bemerkt, als Lisa zur Welt kam. Lisa ist für Mirjam fast wie eine Tochter. Sie liebt dieses Kind abgöttisch – und ihr gegenüber zeigt sie es auch. Dies wird sich wahrscheinlich ändern, wenn Lisa älter wird, fähig wird, bewusst zu verletzen. Doch im Moment stellt sie für Mirjams inneres Kind noch keine Gefahr dar. Die Liebe zu Lisa birgt keine Risiken.
Die Liebe zu dir jedoch ist gefährlich. Du könntest sie verlassen. Du könntest sie betrügen. Du könntest von ihr Verantwortung fordern, die sie nicht übernehmen will. Mirjam befindet sich im Moment in einer ziemlich heiklen Situation, da sie dich – wenn ich jetzt mal meinen ganz persönlichen Eindruck anbringen darf – eigentlich liebt. Sie darf es dir aber nicht zu offensichtlich zeigen, weil du dies sonst gegen sie verwenden könntest.«
»Ja, das ist mir schon klar«, unterbrach Nicole die Psychologin ungehalten. Jetzt war es ihr wirklich klar, aber hieß das, dass sie in ihrer Beziehung mit der Zahnärztin auf das Vertrauen und die Vertrautheit verzichten musste – einfach, weil diese ihr inneres Kind nicht gefährden wollte? Das konnte wohl kaum ernsthaft die Meinung der Psychologin sein! Vor allem würde Nicole das nicht akzeptieren!
»Mir ist bewusst, dass für dich die Beziehung mit Mirjam ziemlich anstrengend sein muss«, sagte Alice mit einem Lächeln. Sie hatte Nicoles wechselnden Gesichtsausdruck richtig gedeutet. »Aber du hast schon so viel Geduld gehabt, also lass ihr doch noch Zeit. Was spielt es denn letztendlich für eine Rolle, ob sie dir heute oder in einem Jahr oder in zwei Jahren vertraut, wenn ihr nur zusammenbleibt?« fragte sie rhetorisch.
Nicole seufzte. Alice hatte ja recht, doch sie fühlte sich manchmal so unwirklich, wenn sie mit Mirjam zusammen war, dass sie sich fragte, ob das ihrem eigenen inneren Kind wirklich gut tat.
Alice blickte auf ihre Armbanduhr. »Oh mein Gott!« entfuhr es ihr. »Ich muss los! Tut mir leid, wenn ich dir kein Rezept anbieten kann, aber ich hoffe doch, dass ich dir Mirjams Verhalten vielleicht etwas verständlicher machen konnte.«
Nicole nickte. Natürlich gab es kein Rezept, das gab es ja nie! Gegen Liebe gab es schließlich ebensowenig ein Rezept oder eine Medizin – ohne Risiken und Nebenwirkungen. Und sie liebte Mirjam, daran änderten auch irgendwelche psychologisch erklärbaren Schichten nichts!
Vor dem Café verabschiedete sie sich herzlich von Alice, die ihr jetzt wieder ziemlich sympathisch war. Sie konnte ja nichts dafür, dass Michaela gestorben war, dachte sie, und zudem hatte ihr das Gespräch mit Mirjams Schwägerin doch geholfen. Sie würde aber, beschloss Nicole, ihrer Geliebten nicht erzählen, worüber sie sich über zwei Stunden lang im Schillernden Pfau unterhalten hatten!
~*~*~*~
B raungebrannt und mit ansteckend guter Laune tauchte Helen im Schuhgeschäft auf. Sie hatte zusammen mit Anna zwei Wochen Urlaub in Griechenland verbracht und sprühte jetzt vor Energie.
Nachdem sie Nicole die vielen kleinen, lustigen Geschichten erzählt hatte, erkundigte sie sich nach dem Geschäftsgang während ihrer Abwesenheit. Zuverlässig wie immer hatte Nicole Buch geführt über die Verkäufe, die
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