Ungeahnte Nebenwirkungen
Kreuze kroch.
Mit einem Seufzer, der sich unwillkürlich aus ihrer Kehle gelöst hatte, sagte sie: »Michaela war Mirjams Geliebte, die bei einem tragischen Verkehrsunfall vor sechzehn Jahren ums Leben kam.«
»Nein«, korrigierte Alice sie, die ihr Lächeln nun nicht mehr verbarg. »Nein, Nicole, da liegst du völlig falsch!«
Wie, falsch?! Nicole versuchte sich an alles zu erinnern, was sie über Michaela wusste. Zugegeben, es war nicht sehr viel, doch es schien sich bei dieser Wunderfrau eindeutig um Mirjams Geliebte zu handeln. Mirjam selbst hatte nie etwas anderes behauptet. Aber, überlegte Nicole plötzlich unsicher, hatte sie je gesagt, dass sie ein Paar gewesen waren? Nein, dachte sie, nein, das hatte sie nicht, doch etwas anderes hatte doch gar nicht zur Diskussion gestanden!
»Was meinst du damit?« fragte Nicole Alice fassungslos. »Wieso liege ich falsch? Wer war Michaela dann, wenn nicht Mirjams große Liebe?« Als nächstes erzählt sie mir, die Welt sei eine Scheibe, fügte Nicole sarkastisch in Gedanken hinzu.
Alice legte beruhigend eine Hand auf Nicoles Finger, die sich um das Wasserglas verkrampft hatten. »Michaela und Mirjam waren Geschwister«. Alice holte tief Luft. »Sie waren eineiige Zwillinge!« ließ sie endlich die Katze aus dem Sack.
Zwillinge? Wer war da ein Zwilling? Wovon sprach diese Frau? Eineiig? Ein Ei, zwei Eier, drei . . . Nicole verlor für einen Moment die Orientierung.
Alice, die ihren Blick unverwandt auf Nicole gerichtet hatte, wiederholte: »Mirjam und Michaela waren eineiige Zwillinge! Das heißt, sie waren so nahe miteinander verwandt, wie es nur irgendwie möglich ist! Sie hatten, wie du weißt, ihre eigene Sprache. Sie sahen gleich aus, teilten die gleichen Vorlieben, traten meist als Doppelpack in Erscheinung, waren unzertrennlich. Eine hätte für die andere ihr Leben gegeben. Sie gehörten zusammen, für immer zusammen, von Geburt an!«
Die Welt konnte keine Scheibe sein, dafür drehte sie sich entschieden zu schnell, befand Nicole, die dem Schwindelgefühl, das sich ihrer bemächtigte, nichts entgegenzusetzen vermochte.
Nicole fühlte, wie die Welt in tausend mikroskopisch kleine Teile zersprang. So schief, so definitiv falsch hatte sie in ihrem ganzen Leben noch nie gelegen. Michaela war Mirjams Zwillingsschwester! Nicole konnte es nicht fassen. Wer konnte so etwas denn ahnen? Sie war auf Mirjams Zwillingsschwester eifersüchtig gewesen, rasend, sinnlos eifersüchtig gewesen? Das konnte unmöglich sein!
Nicole sank in sich zusammen. Sie schloss die Augen. Vor ihr tauchte das Bild, das sie in Mirjams Wohnung gesehen hatte, auf. Wer war das auf dem Bild, fragte sie sich.
Alice beantwortete die unausgesprochene Frage: »Es ist Michaela, die du auf dem Bild gesehen hast. Die beiden glichen sich fast aufs Haar.«
Alices Lachen nahm einen wirklich amüsierten Ausdruck an. »Ralf erzählt mir oft, dass selbst ihre Mutter manchmal Mühe hatte, sie auseinanderzuhalten. Wenn man sich das vorstellt«, jetzt lachte die Psychologin laut, »die eigene Mutter kann ihre Töchter nicht voneinander unterscheiden!« Alice wurde ernst. »Nicole, es tut mir aufrichtig leid, dass du von Michaelas wahrer Identität erst jetzt erfährst«, sagte sie in beschwichtigendem Tonfall. »Ich hatte keine Ahnung, welchem Irrtum du aufgesessen warst. Bitte entschuldige, dass ich dir nicht längst die Zusammenhänge erklärt habe!«
Mirjams Schwägerin schien tatsächlich sehr betreten. Um Nicole drehte sich noch immer das gesamte Universum, doch sie kam allmählich auf den Boden der Tatsachen zurück. Ihre Erfahrung mit Zwillingen war gleich Null. Sie wusste nicht, wie sich eineiige Zwillinge zu verhalten pflegten, doch ihr war bekannt, dass zwischen ihnen ein für Außenstehende unerklärliches Band bestand.
Der kleine Zettel in Nicoles Jackentasche knisterte bei jedem Schritt. Nicole rannte beinahe, sie wollte sich so schnell wie möglich zu Hause auf ihre Couch fallen lassen. Sie brauchte unbedingt Ruhe, sehr viel Ruhe, um Alices unerwartete Eröffnungen zu sortieren und wenigstens ansatzweise zu verstehen.
Dann würde sich Nicole entscheiden müssen, wie sie weiter vorgehen sollte. Auf dem kleinen Zettel hatte Alice Mirjams Adresse und Telefonnummer in Wellington notiert, doch Nicole wusste nicht, ob sie es wagen konnte, einfach anzurufen oder zu schreiben.
Plötzlich waren ihr siedendheiß die Briefe in den Sinn gekommen, die sie Mirjam geschrieben hatte. Wo waren sie
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