Ungeahnte Nebenwirkungen
geblieben?
Alice hatte mit der Antwort auf Nicoles Frage gezögert. Schließlich hatte sie gesagt, sie hätte die Briefe nicht an Mirjam weitergeleitet, da sie gedacht habe, sie sollten erst etwas Abstand voneinander bekommen. Nicole hatte erleichtert aufgeatmet, denn das Geschriebene hatte jetzt überhaupt nicht mehr gepasst. Sie hatte mit Alice vereinbart, dass sie die Briefe am Wochenende abholen würde.
»Wenn du möchtest«, hatte Alice vorgeschlagen, »könnten wir dir dann auch Fotos von Michaela und Mirjam zeigen, damit du dir selbst ein Bild von ihnen als Zwillinge machen kannst!«
Vielleicht würde das ja helfen, hatte Nicole überlegt, die noch immer nicht so recht an diese Zwillingsgeschichte glauben mochte, und dankend zugesagt.
Nachdem sie den Telefonhörer wieder auf die Station zurückgelegt hatte, begann sie für sich aufzuschreiben, was sie in den letzten zwei Stunden Überraschendes erfahren hatte. Die Liste wurde lang und länger. Michaela und Mirjam, Mirjam und Michaela, schwirrten ihr die Namen unaufhörlich durch den Kopf. Es konnte kein Zufall sein, dass Ralfs Sohn auch Michael hieß. Wieso war ihr das nicht aufgefallen? Ob Michaela auch lesbisch gewesen war? fragte sie sich und musste plötzlich lachen. Diese Frage würde sie Alice bestimmt nicht stellen, die sollte ihr Mirjam beantworten.
Das Lachen blieb Nicole im Hals stecken. Mirjam ahnte ja gar nicht, was sich ereignet hatte. Vor allem wusste sie nicht, dass sich Nicoles rasende Eifersucht nicht gegen ihre Schwester, sondern gegen eine vermeintliche Nebenbuhlerin gerichtet hatte. Ob sie ihr glauben würde?
Die nächsten Stunden verbrachte Nicole damit, sich vorzustellen, sie hätte eine Zwillingsschwester. Irgendwann gab sie entnervt auf, denn sie besaß nicht den geringsten Anhaltspunkt, wie sich Zwillinge im Umgang miteinander verhielten. Da sie selbst zu ihren Schwestern keine besonders guten Beziehungen pflegte, eigentlich gab es gar keine Verbindung zwischen ihnen außer den gemeinsamen Eltern, die sich aber auch von Nicole zurückgezogen hatten, lagen enge geschwisterliche Bande weit außerhalb ihres Vorstellungsvermögens.
Die Entscheidung, wie, wann und auf welche Weise sie mit Mirjam Kontakt aufnehmen würde, vertagte Nicole. Sie musste sich erst an die veränderte Situation gewöhnen und beschloss, dass es auf ein paar Stunden mehr oder weniger nun auch nicht mehr ankäme. Obwohl, Mirjam fehlte ihr, sie vermisste die Zahnärztin jede wache Minute des Tages.
»Sind sie nicht süß?« fragte Alice lachend und deutete auf das Foto der beiden dunkelhaarigen Mädchen, die mit einem Mann, wahrscheinlich ihrem Vater, von der Spitze eines Kletterturms auf einem Spielplatz in die Kamera grinsten.
Nicole schüttelte ungläubig den Kopf. Welche von den zweien war Mirjam? Sie konnte sie beim besten Willen nicht von ihrem exakten Ebenbild unterscheiden.
»Das ist Tante Mirjam«, informierte Lisa sie, die es sich auf Nicoles Schoß bequem gemacht hatte und nun mit ihrem kleinen Finger auf das Mädchen am linken Bildrand deutete.
Aha, Lisa kannte die Fotos offensichtlich, denn auch bei noch so sorgfältiger Untersuchung des Bildes konnte Nicole keinen Unterschied zwischen ihrer Liebsten und deren Schwester ausmachen.
»Bemüh dich nicht«, lachte Ralf. »Es hat keinen Zweck, du wirst sie auf den Fotos nicht auseinanderhalten können. Ich weiß, wer wer ist, weil ich das Bild gemacht habe. Ich bin ja ein paar Jährchen älter als die beiden und durfte deshalb auch schon mit Vaters Kamera fotografieren, als die Mädchen noch auf dem Spielplatz Sandburgen bauten.«
Ralf, der dem Treffen mit Nicole offensichtlich sehr skeptisch entgegengesehen hatte, saß nun entspannt neben ihr auf dem Sofa und kommentierte die vielen Bilder aus Mirjams Kindheit. Zu jeder Fotografie erzählte der große Bruder eine kurze Geschichte, die meistens von vielen Lachern unterbrochen wurde.
Nicole fiel auf, dass es kaum Bilder gab, auf denen nur Michaela oder nur Mirjam abgelichtet war. Die zwei hatten wohl wirklich immer zusammengeklebt wie Pech und Schwefel, überlegte Nicole nicht ganz ohne Wehmut.
Die Zeit verflog viel zu schnell. Familie Schiesser, die Nicole nach anfänglich vorsichtigem Beobachten wieder in ihren Kreis aufgenommen hatte, bescherte ihr einen heiteren, unbeschwerten Nachmittag, an dem sie sehr, sehr viel über Mirjams Kindheit und Jugendzeit erfuhr.
Ralf deutete auf ein Bild, das sich deutlich von den vorherigen unterschied.
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