Ungeahnte Nebenwirkungen
wie lange sie sich schon nicht mehr gesehen hatten. Wenn eine krank war, spürte es die andere. Wenn eine etwas brauchte, fragte die andere schon danach, ehe die Bitte ausgesprochen wurde. Sie konnten, wenigstens hatte man den Eindruck, ihre Gedanken gegenseitig lesen. So etwas muss schon fast unheimlich sein für die Familienmitglieder«, vermutete die Psychologin, was Ralf mit heftigem Nicken bestätigte.
Lisa blätterte die letzte Seite im Fotoalbum um. Nicole warf einen Blick auf die Bilder und schnappte unwillkürlich nach Luft. Sie erkannte das Portrait, das in Mirjams Wohnung hing, doch sie war sich nicht sicher, um welches der beiden Bilder es sich wirklich handelte, denn auch von Mirjam existierte eine zum Verwechseln ähnliche Portraitaufnahme.
Wieder half ihr Lisa aus der Verwirrung. »Die hier«, sagte sie und zeigte auf das rechte Bild.
Nicole betrachtete die beiden Aufnahmen lange und eingehend. Waren Mirjams Lippen nicht etwas voller als Michaelas? Und die Grübchen an den Mundwinkeln? Bei Mirjam schienen sie ein wenig tiefer zu sein. Ihr Blick wanderte zu den Augen. Beim strahlenden Blau, das ihr entgegenlachte, wurde ihr warm. Sie entschied, dass Mirjam eindeutig die intensiveren Augen hatte als Michaela, doch wahrscheinlich handelte es sich hierbei eher um eine subjektive Wahrnehmung, wie sie sich widerstrebend eingestand.
Unter den beiden Fotografien befand sich ein einzelnes im Querformat. Es zeigte ein schlichtes, mit bunten Blumen geschmücktes Grab. Die Inschrift auf dem rötlichen Stein konnte Nicole mühelos lesen: »Michaela Schiesser, für ewig in unseren Herzen . . .«, darunter standen ihr Geburts- und Todestag.
Nicole fühlte, wie sich in ihrem Bauch ein Kloß festsetzte. Die Luft im geräumigen Wohnzimmer wurde plötzlich stickig und heiß. Lähmendes Schweigen hatte sich breitgemacht. Selbst Lisa blickte nur stumm auf das Bild.
Nach endlos scheinenden Minuten schloss Alice das Album leise und legte es auf den kleinen Salontisch. »Wer möchte etwas trinken?« fragte sie in die Stille.
Dankbar für die Unterbrechung ihrer traurigen Gedanken meldeten die anderen ihre Wünsche an, während Nicole innerlich die Notiz, die unter dem Foto gestanden hatte, immer wieder wortlos für sich wiederholte. Westfriedhof, Reihe 12. Sie durfte es nicht vergessen.
~*~*~*~
D er Januar hielt das Land in seinen eiskalten Armen gefangen. Fröstelnd trat Nicole auf den Gehsteig vor dem Blumengeschäft und schritt langsam auf die schmiedeeiserne Pforte zu, die in eine etwa zwei Meter hohe Mauer eingelassen war. Das Tor quietschte mitleiderregend, als Nicole es aufstieß.
Den rötlichen Stein sah Nicole schon von weitem, er hob sich deutlich von dem Grau und Schwarz der anderen Gedenksteine ab. Nicole zögerte. Sie war sich auf einmal gar nicht mehr so sicher, ob sie wirklich hierher gehörte, auf den Westfriedhof, Reihe 12. Irgendwie kam sie sich vor, als ob sie sich in eine sehr intime Familienangelegenheit mischte.
Nicole blieb stehen, schloss die Augen und versuchte ihre Gedanken zu sammeln. Sie sah den Schatten, der Mirjams Gesicht so oft verdunkelt hatte, hörte ihre Stimme, wie sie von Michaela erzählte. Doch, entschied Nicole, sie musste das Grab besuchen. Sie hatte mit Michaela etwas zu bereinigen, und hier fühlte sie sich ihr näher als irgendwo sonst.
Die Inschrift sah schon ziemlich verwittert aus, doch Nicole konnte sie noch immer problemlos entziffern. »Du wurdest sehr geliebt«, flüsterte sie dem Bild, das in den kleinen Sockel vor dem Stein eingelassen war, mit heiserer Stimme zu.
»Und Mirjam liebt dich noch immer«, erzählte sie Michaela, die sie anlachte. »Sie hat dich nicht vergessen und wird dich nie vergessen.«
Nicole ging in die Hocke, um das Bild näher zu betrachten. Sie kannte es zwar schon sehr gut, doch jetzt erschien es ihr auf einmal in einem ganz anderen Licht, da sie sein Geheimnis gelüftet hatte.
Sie versuchte sich vorzustellen, wie Mirjam das Grab ihrer Schwester besuchte. Wie mochte sie sich wohl fühlen, wenn sie die Inschrift las? Was ging in ihr vor, wenn sie sich an den Tag erinnerte, an dem sie starb, und an denjenigen, an dem sie begraben wurde? Konnte Nicole sich überhaupt auch nur annähernd soweit in ihre Geliebte versetzen, um einen Bruchteil des Schmerzes, den sie empfinden musste, nachzuvollziehen?
»Es tut mir leid, dass ich dich verwünscht habe«, entschuldigte sich Nicole. »Ich wusste es nicht besser und glaubte, du würdest dich
Weitere Kostenlose Bücher