Ungeduld des Herzens.
begann ich allmählich (das meist von den Dichtern Verschwiegene) zu verstehen, daß gerade die Ausgesetzten, die Gezeichneten, die Häßlichen, die Verblühten, die Verkümmerten, die Zurückgestoßenen mit einer viel leidenschaftlicheren, einer viel gefährlicheren Gier begehren als die Glücklichen und Gesunden, daß sie lieben mit einer fanatischen, einer finsteren, einer schwarzen Liebe und keine Leidenschaft auf Erden gieriger, verzweifelter sich aufbäumt als eben jene aussichtslose, jene hoffnungslose der Stiefkinder Gottes, welche doch nur durch Liebe und Geliebtsein ihre irdische Existenz gerechtfertigt fühlen können. Daß gerade aus dem untersten Abgrund der Verzweiflung am grimmigsten der panische Schrei der Lebensgier aufstöhnt – dieses fürchterliche Geheimnis hatte ich, der Unerfahrene, der Unerprobte niemals zu ahnen gewagt! Erst in dieser Sekunde war diese Erkenntnis wie ein glühendes Messer in mich hineingestoßen.
Dummkopf! – auch das verstand ich jetzt, warum just dieses Wort ihr inmitten der Panik des Gefühls von der Lippe gefahren, während sie die halbgeformte Brust der meinen entgegenpreßte. Dummkopf! – ja, sie hatte recht, mich so zu nennen! Alle mußten längst alles durchschaut haben vom ersten Augenblick, der Vater und Ilona und der Diener und das übrige Gesinde. Alle mußten ihreLiebe, ihre Leidenschaft längst geargwöhnt haben, mit Erschrecken vielleicht und wahrscheinlich mit schlimmem Vorgefühl – nur ich ahnte nichts, der Narr meines Mitleids, der den guten, den braven, den tölpischen Kameraden spielte, der breitmäulig spaßte und nicht merkte, daß sie sich an meinem unverständigen, unverständlichen Nichtverstehen die brennende Seele zerquälte. Wie in einer schlechten Komödie der triste Held inmitten einer Intrige steht, jeder einzelne im Zuschauerraum weiß schon längst, daß er umstrickt ist, und nur er, der Tölpel allein, spielt todernst weiter, unbekümmert weiter und weiter und begreift noch immer nicht, in welches Netz er geriet (und die andern kennen schon jeden Faden und jede Masche von Anfang an) – so mußten alle im Haus zugesehen haben, wie ich herumtappte bei diesem albernen Blindekuhspiel des Gefühls, bis sie mir endlich gewaltsam die Binde von den Augen riß. Aber wie ein einziges aufflammendes Licht genügt, um in einem Zimmer gleichzeitig ein Dutzend Gegenstände zu erhellen, so wurde mir jetzt im nachhinein – zu spät, zu spät! – eine Unzahl Einzelheiten all dieser Wochen beschämend verständlich. Jetzt erst blitzte in mir auf, warum ich sie jedesmal erbitterte, wenn ich sie übermütig »Kind« nannte, sie, die doch gerade vor mir nicht als Kind gelten, sondern als Frau, als Geliebte ersehnt werden wollte. Jetzt erst begriff ich, warum ihr manchmal die Lippen unruhig bebten, wenn ihre Lahmheit mich sichtlich erschütterte, warum sie ingrimmig mein Mitleid haßte – offenbar erkannte hellseherisch der weibliche Instinkt in ihr, daß Mitleid ein viel zu laues Schwestergefühl und nur trister Ersatz wirklicher Liebe sei. Wie mußte die Arme gewartet haben auf ein Wort, auf ein Zeichen des Begreifens, das noch immer und immer nicht kam, wie mußte sie gelitten haben unter meiner plaudernden Unbefangenheit, indes sie auf dem glühenden Rost der Ungeduld lag und mitzuckender Seele wartete, wartete auf die erste zärtliche Geste, oder zumindest wartete, daß ich ihrer Leidenschaft endlich gewahr würde. Und ich, ich hatte nichts gesagt, nichts getan und war doch nicht fortgeblieben, sie unablässig bestärkend durch mein tägliches Kommen und gleichzeitig verstörend durch meine seelische Schwerhörigkeit – wie verständlich darum, daß ihr schließlich die Nerven rissen und sie mich nahm als ihre Beute!
All das jagte jetzt mit hundert Bildern in mich hinein, während ich, wie von einer Explosion hingeschlagen, in dem dunklen Gang an der Wand lehnte, den Atem ausgeschöpft und die Beine fast genau so lahm wie die ihren. Zweimal versuchte ich, mich weiterzutasten, erst das dritte Mal tappte ich hin bis an die Klinke. Hier geht es in den Salon, überlegte ich rasch, gleich links führt die Ausgangstür zur Halle, dort liegt mein Säbel und meine Kappe. Rasch also das Zimmer durch und fort, nur fort, ehe der Diener kommt. Gleich die Treppe hinab und fort, fort, fort! Sich retten aus dem Haus, bevor man jemandem begegnet, dem man Rede und Antwort stehen muß. Nur fort jetzt, nicht dem Vater in den Weg kommen, nicht Ilona, nicht Josef,
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