Ungeplant (German Edition)
schon fast nicht mehr menschlich.
Endlose Minuten vergehen, in denen wir gemeinsam weinen. Doch so langsam bekomme ich Angst, dass er sich nicht mehr beruhigt. Ich lege meine Hände auf seine Wangen und suche seinen Blick, denn er ist komplett abwesend. Meine Finger streichen durch seine raspelkurzen Haare, aber auch das bringt ihn nicht wieder zurück. Ich will ihm wirklich keine Ohrfeige verpassen müssen, also tue ich, was ich noch nie für ihn, er aber schon so oft für mich, getan hat. Ich singe leise in sein Ohr.
“Hush-a-bye, don't you cry,
go to sleep my little baby.
When you wake, you shall have
all the pretty little horses…”
Mit jeder Zeile wird seine Atmung ruhiger, bis er mich schließlich wieder ansieht. Ich stoße einen erleichterten Seufzer aus.
„Bist du wieder bei mir?“, frage ich dennoch zögerlich.
„Ich glaub schon.“
Seine Stimme ist rau und belegt. Ich streichle über seine Wangenknochen und versuche es mit einem müden Lächeln, welches er nicht erwidert. Als ich mir sicher bin, dass er nicht wieder zusammenbricht, klettere ich auf den Fahrersitz und fahre uns zur Kneipe, wo der Beerdigungskaffee stattfindet.
Mit einem Kaffee in der Hand steht Sven an der Theke und beobachtet die Trauergesellschaft. Jede Faser seines Körpers strahlt Widerwillen aus. Ich verlasse meinen Posten bei Lara und Tim und stelle mich neben ihn.
„Was ist los?“, flüstere ich, um keine Aufmerksamkeit auf uns zu lenken.
„Diese alten Säcke widern mich an. Sitzen rum, fressen Kuchen, trinken auf Kosten meiner Mutter Schnaps und tun so, als hätten sie meinen Vater gekannt“, faucht er durch seine zusammengebissenen Zähne. So boshaft kenne ich ihn nicht.
Vorsichtig nehme ich ihm die Tasse aus der Hand und ziehe ihn hinter mir her. Wir gehen an den Toiletten vorbei und finden dort die Tür zum Hinterhof der Kneipe. Ich öffne die schäbige Holztür und atme erleichtert die frische Luft ein. Das Rauchverbot in Gaststätten scheint für über 60jährige Herren mit Zigarren nicht in Kraft getreten zu sein. Sven rempelt mich fast um, in dem Verlangen dort rauszukommen. Hektisch sucht er in den Innentaschen seines Jacketts nach Zigaretten, die er auch findet. Nur leider fehlt ihm ein Feuerzeug.
„Scheiße!“, flucht er lautstark.
Es wäre einfach, sich drinnen Streichhölzer geben zu lassen, doch Sven findet eine andere Art der Beruhigung. Mit wildem Blick kommt er auf mich zu und drängt mich an die Hofmauer. Er braucht keine Zustimmung, um seine Lippen auf meinem Mund zu pressen, doch jetzt gerade finde ich es nicht richtig. Mit Nachdruck schiebe ich ihn von mir und zwinge ihn, mich anzusehen.
„Nicht hier, Sven“, sage ich streng. Er nimmt meine Hand von seinem Brustkorb und drängt sich wieder an mich. Doch dieses Mal lehnt er nur seine Stirn an meine und atmet heftig.
„Was kann ich tun, Sven. Sag mir, wie ich dir helfen kann.“
„Diese ganze Veranstaltung macht mich verrückt, ich könnte ….“
Er ballt wütend die Hände, so fest, dass die Knöchel weiß hervortreten. Meine Hände schließen sich um seine Fäuste, damit er sich wieder entspannt.
„Sieh mich an!“
Ich habe die Befürchtung, er entgleitet mir schon wieder. Die Sache vorhin war schon beängstigend genug. Nur mit Mühe schafft er es, den Blickkontakt zu halten.
„Ich verstehe total, dass dich das anwidert, aber deine Mutter braucht das. Sie unterhält sich mit alten Freunden deines Vaters darüber, wie er früher war und was sie zusammen erlebt haben. Hörst du? Sie braucht das wirklich, auch wenn es für dich nicht nachvollziehbar ist.“
Tränen rinnen an meiner Wange runter, doch es sind nicht meine eigenen.
„Ich liebe dich, Lina“, schluchzt er.
„Das weiß ich. Ich liebe dich auch. Willst du hier raus?“
Sven nickt eifrig.
„Okay, ich regel das. Warte hier.“
In der Kneipe suche ich Thomas und erkläre ihm die Situation. Wir sind uns einig, dass es auf jeden Fall besser ist, Sven hier rauszuholen, als wenn er nachher noch eine Szene veranstaltet. Thomas versichert mir, dass sie alles im Griff haben und Marianne nachher nach Hause bringen.
28.
Mit zwei Papiertüten voller Burger und Fritten aus dem Drive in, steigen wir die Treppen zu meiner Wohnung hoch. Ich bin sehr froh, dass Sven das erste Mal seit Tagen wieder Appetit hat, und werde deswegen einen Teufel tun, mich über seinen Wunsch nach Fast Food zu beschweren.
„Wann kommt Max zurück?“, fragt er, als wir
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