Ungeschoren
und hatte eine weiß glänzende Fläche vor sich. Wie eine frisch gewaschene Eishockeybahn, auf der Kerstin Holm den Mittelkreis darstellte. Der Mittelkreis blinzelte. Dann verstand sie.
»WeBe«, sagte sie laut. »WB. Whiteboard.«
Dann machte sie sich daran, alles systematisch zu ordnen.
Zwei Filzschreiber gaben den Geist auf, bevor sie fertig war.
Die Mittsommersonne, die durchs Fenster hereinfiel, ließ durchaus nicht den Eindruck entstehen, dass es kurz vor sieben Uhr war.
Irgendwo wartete ein Sohn auf sie.
Und sie gingen nach Hause. Gunnar Nyberg ging nach Hause zu Ludmila. Arto Söderstedt ging nach Hause zu Anja, Mikaela, Linda, Peter, Stefan und Klein Lina. Kerstin Holm ging nach Hause zu Anders und Viktor. Paul Hjelm ging nach Hause zu Christina. Lena Lindberg ging nach Hause zu Claes. Viggo Norlander ging nach Hause zu Astrid, Charlotte und Sandra. Und Sara Svenhagen ging nach Hause zu Jorge und Isabel.
Widerwillig gingen sie nach Hause – über ihren Köpfen schwebte das Ungelöste wie eine bedrohliche Giftwolke.
Eine giftige Säurewolke.
34
Am Mittsommerabend regnete es. Der Regen hatte völlig unerwartet eingesetzt und wehte in Schleiern durch die Stadt.
In der Kampfleitzentrale war vom Regen nichts zu spüren. Hier war die Außenwelt auf ein verblüffend voll geschriebenes Flipchart reduziert. Es stand vorn am Katheder neben Kerstin Holm, die gerade einen Stapel leerer Papiere zusammenschlug und über das Auditorium blickte. Ihre Dummies fühlten sich ganz anders an, als ihr Blick an einem älteren Mann mit einer enormen Nase hängen blieb.
Die A-Gruppe war nämlich an diesem Morgen kräftig erweitert. Jorge Chavez saß da, Klein Isabel in einem Tragegurt vor der Brust. Paul Hjelm saß da mit Kunststoffbrille und Armanianzug. Da saß ein finnischer Gentleman namens Risto Selonen. Und da saß Jan-Olov Hultin, schlampiger gekleidet denn je. Hjelm meinte, Grashalme aus den Taschen der zerschlissenen Hose heraushängen zu sehen. Oder war es Unkraut?
Er beugte sich vor und flüsterte: »Ich dachte, du wärst pensioniert.«
Hultin flüsterte zurück: »Das hatte ich auch gedacht. Aber mein Gehirn hat es nicht mitgekriegt.«
Er erhob die Stimme und sagte: »Habt ihr etwas dagegen, dass ich dabeisitze? Als passiver Beobachter?«
Kerstin Holm verzog das Gesicht zu einer kleinen Grimasse und sagte: »Wenn du das Flipchart nicht kommentierst.«
»Oder ihre Dummies«, sagte Arto Söderstedt.
»Versprochen«, sagte Hultin und setzte sich zurecht. Die Stühle waren viel härter als der vorn am Katheder.
Kerstin Holm sagte zur Einleitung: »Wie ihr seht, sind wir heute viele. Es sind nämlich viele auf verschiedene Weise in die Geschichte verwickelt. Die Fremdlinge Paul und Jorge. Dazu Risto Selonen von der Interpol, der uns mehr über den moldawischen Fall aus Jönköping berichten wird. Das Opfer heißt Dumitru Odagiu, die mutmaßliche Täterin Ligia Dumitrica. Mafiazuhälter beziehungsweise Prostituierte. Falls das Konzept bekannt vorkommt.«
Sie holte tief Luft und fuhr fort: »Heute ist Mittsommerabend. Ich nehme an, wir haben alle unsere Pläne gemacht, und wir müssen sehen, wie weit wir kommen. Doch ich warne euch: Wenn wir etwas finden, fällt das Feiern aus. Ich habe die Zusage vom Reichspolizeichef, dass wir unbegrenzt Überstunden machen können. Lasst uns nur zuerst darüber reden, wie der Tag aussehen soll. Ich selbst möchte spätestens um drei Uhr aufhören. Anders ist zu Hause und will in den Vitabergspark zur Mittsommerfeier.«
»Allein zu Haus?«, fragte Lena vielsagend.
»Nicht richtig allein«, sagte Kerstin mit gerunzelter Stirn.
»Ich möchte spätestens um vier zu Hause sein«, sagte Arto Söderstedt. »Und meine freche Tochter würde ich gern mitnehmen.«
»Ich will zu meinen Enkelkindern nach Östhammar«, sagte Gunnar Nyberg. »Ludmila ist schon da. Ich fahre gleich hin. Spätestens um drei.«
»Wir wollen weg«, sagte Sara Svenhagen. »Erwachsenenmittsommer in Råsunda.«
»Bei einem unbekannten Pharmakologen-Ragnar«, stöhnte Jorge.
»Es wird Zeit, dass du meine alten Freunde kennenlernst«, sagte Sara. »Wir haben einen guten Babysitter.«
»Das bedeutet, dass ich vor Jorge und Sara wegmuss«, sagte Babysitter Lena Lindberg.
»So früh wie möglich«, sagte Viggo Norlander. »Wir wollen in die Schären zu meiner Schwiegermutter. Ohne Rasseln.«
»Also dann«, sagte Kerstin Holm und zeigte auf das Flipchart: »Drei Phantombilder unseres Mörders
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