Ungeschoren
sagte er, schwächer, als er sich vorgenommen hatte, weil ihm gerade der Atem ausging. Und die Kinnlade herunterfiel.
»Das A und O des Rechtswesens«, assistierte Kerstin Holm.
Dennoch sagte er: »Das ist das A und O des Rechtswesens.«
Als würde ihm bewusst, dass er hinterherhinkte, hielt er einen Augenblick inne und angelte ein Blatt Papier aus seiner durchweichten Aktenmappe. »Also Folgendes«, sagte er und fand zu seiner Rhetorik zurück. »Ich werde diese unschuldigen Lämmer in einer einzigen Schadensersatzklage vertreten. Hier haben Sie die Anordnung des Staatsanwalts, dass sie unverzüglich auf freien Fuß gesetzt werden. Sie sind eingeladen, Fräulein Holm, die Angelegenheit en personne mit dem erwähnten Potentaten abzuklären. Ich verlange, mit sämtlichen Opfern der polizeilichen Willkür sprechen zu können, und werde ihnen meine Dienste anbieten. Im Anschluss daran werde ich sie an einem Ihrer Einsicht vollständig entzogenen Ort versammeln und mit ihnen über die jeweilige Schadensersatzforderung diskutieren. Wir treffen uns vor Gericht wieder, Madame.«
»Mademoiselle«, sagte Kerstin Holm zu der inzwischen wieder geschlossenen Tür und griff im selben Moment zum Telefon.
»Sara«, kam die Stimme aus dem Telefon.
»Wie kommt ihr voran?«, fragte Kerstin.
»Sie hält völlig dicht«, sagte Sara Svenhagen. »Heute ist sie übrigens aus Polynesien.«
»Wenn ihr noch einen höheren Gang einlegen könnt, dann tut das jetzt. Sofort. In zehn Minuten ist Naska Rezazi weg. Es ist aus.«
»Okay.«
Sara Svenhagen trug Isabel vorm Bauch. Das kleine Bündel war von einer regelrechten Gewitterwolke überreicht worden.
Sie legte auf, beugte sich zu Lena Lindberg hinüber und sagte: »Die letzte Chance.«
Und Lena Lindberg verstand. Verstand, dass sie schweigen sollte.
Sie fixierten Naska Rezazi. Sie sah zielbewusst und verwirrt zugleich aus.
»Du musst uns etwas über ihn erzählen«, sagte Sara. »Er bedroht uns.«
»Uns?«, sagte Naska Rezazi.
»Lena und mich. Er bedroht uns persönlich. Verstehst du? Er droht damit, uns zu töten. Meine kleine Tochter. Uns alle. Haben wir dich nicht gut behandelt? Hast du nicht unsere Namen zu deinem gewählt? Willst du, dass ein Mann uns ermordet? Wie ein Mann im Begriff war, dich zu ermorden? Jetzt bist du an der Reihe, uns zu helfen. Jetzt hast du die Chance, andere Frauen vor einem wahnsinnigen Mann zu retten. Einem Mann, der sich weigert zuzuhören, einem Mann, mit dem nicht zu reden ist.«
Naska sah sie erstaunt an. Ihr Mund bewegte sich langsam. Als wäre sie im Begriff, etwas ganz anderes zu sagen als das, was sie tatsächlich sagte: »Man kann mit ihm reden.«
»Wie meinst du das?«
»Er war der erste Mann, der mir begegnet ist, mit dem man reden kann. Der zuhört.«
»Aber uns bedroht er.«
Naska Rezazi überlegte. Gründlich. Sehr gründlich. Dann sagte sie: »Nein. Er wird euch nichts tun. Nie im Leben.«
»Er hat deinen nächsten Verwandten ermordet.«
»Er hat mir eine Akelei gegeben. Er hat mir das Leben gegeben und die Blume, die meine sieben voll gemacht hat. Und heute ist Mittsommer. Heute Nacht werde ich träumen.«
Da ging die Tür auf. Zwei Wärter erschienen. Hinter ihnen stand ein elegant gekleideter Herr, den sie vage erkannten.
»Ich muss Sie bitten, meine Damen, diesen Raum unverzüglich zu verlassen«, sagte Rechtsanwalt Rosenskiöld.
Sie standen auf und betrachteten Naska. Sie wussten, dass sie sie zum letzten Mal sahen.
Als sie durch die Tür gingen, sagte sie: »Ich heiße immer noch Lera.«
Sie gingen zu Kerstin Holm hinein.
»Schluss mit lustig«, sagte Lena Lindberg.
»Habt ihr irgendetwas erreicht?«
»Ich glaube schon«, sagte Sara Svenhagen. »Natürlich kennt sie ihn. Und sie ist nicht ganz so unschuldig, wie wir gedacht haben. Sie wird einen richtigen Mittsommertraum träumen.«
»Aber wir werden nicht mehr mit ihr sprechen können«, nickte Kerstin Holm.
»Das macht nichts«, sagte Sara. »Sie hätte auf keinen Fall etwas verraten. Und ich habe wirklich keine Lust, sie hinter Gitter zu bringen.«
»Sie ist überzeugt davon, dass er ungefährlich ist«, sagte Lena.
Kerstin Holm seufzte und stellte sich vor, wie sie unter einem Schirm im Vitabergspark stehen und in tropfnassen Kleidern Carl-Anton singen hören würde.
»Wir wollen hoffen, dass sie recht hat«, sagte sie. »Geht nach Hause. Feiert Mittsommer. So gut es geht.«
Und so geschah es. Die beiden gingen in ihr Zimmer. Sara schnallte langsam den
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