Ungeschoren
Mittsommer.
19
Poznán, eine Stadt, in der man sich fühlt, als hätte sich das Ozonloch über einem geöffnet.
Wie am Polarkreis. In Schweden. In Tornedalen. Zu Hause. Eine nackte Sonne.
Das merkwürdige Gefühl, nach Jahren im Exil nach Hause zurückzukehren. Ein Fremder. Und die Sonne war auch fremd. Als wäre sie sehr viel näher gekommen.
Als wollte sie ihn festbrennen.
Jon Anderson war dort oben geboren, dreißig Kilometer südlich von Pajala. Da hatte er seine Wurzeln. Aber Poznán kannte er besser. Wo er als Erwachsener gelebt hatte. Nicht in Tornedalen. In Tornedalen würde er immer Kind sein.
Nach Poznán zurückzukehren, war etwas ganz anderes. Auf den eigenen Spuren zu reisen, zu erleben, wie man damals war. Ungestüm, wie ein freigelassenes Kalb.
Wenn man sich dafür entschieden hatte, wer man war.
Das Gefühl.
Selbst unter Folter würde er abstreiten, dass er deswegen darauf bestanden hat hierherzukommen.
Weil es ihn an jene Jahre erinnerte. Die besseren Jahre.
Außerdem war er die A-Gruppe eine Weile los. Diese Ansammlung superschlauer einspuriger Intelligenzen. Fähige Polizisten? Ja, vielleicht. Aber auf einen klitzekleinen Sektor des Weltalls festgelegt. Mit Gunnar Nyberg zusammenzuarbeiten … diesem Grobian. Und unter einer derart unsicheren und unbestimmten Chefin wie Kerstin Holm hatte er noch nie gearbeitet. Es war ein Skandal, offen gesagt. Hultin war zumindest einer von der alten Schule gewesen. Durchschaubar. Aber Holm? Er fragte sich, ob die Gerüchte stimmten, die über sie im Umlauf waren. Ob sie – wie die Gerüchte, aber nicht die Medien behaupteten – tatsächlich in die komische Geschichte mit dem durchgeknallten Polizisten Dag Lundmark verwickelt gewesen war. Persönlich. Die Medien hatten es nicht richtig begriffen. In der wirren Presseberichterstattung ahnte er den Hauch von bewusst ausgelegten falschen Spuren.
Die Einsamkeit gefiel ihm. Sie war seine Begleiterin. Er kannte sie. Er war in ihr zu Hause.
Er begegnete seinem Blick im Spiegel des schäbigen Hotelzimmers. Vier Jahre lang hatte er sein Gesicht nicht im Spiegel gesehen. Er hatte aufgehört, sich anzusehen, als er noch ein Kind war und zum ersten Mal bei den Männern in der Sauna eine Erektion bekam. Als er sich wiedersah, war er erwachsen. Es dauerte eine gute Weile, bis er begriff, wer der Mann war, der ihn aus dem Spiegel anstarrte.
Eigentümliche Jahre. Prägende Jahre. Das fromme Lasstadianische Erbe. Die Strenge, die er von sich selbst kannte, die er bei sich wiederfand, als er glaubte, er habe eine vollständige Metamorphose durchgemacht.
Wie alles wiederkehrte. Unentrinnbar.
Dennoch war er wieder hier. In Poznán. Wo er die mutigste Tat seines Lebens begangen hatte. Würde er eine Wiederholung wagen?
Park Marcinkowskiego.
Das Hotelzimmer lag im Dunkeln. Der Abend ging in die Nacht über, in die Nacht nach einem langen und produktiven Tag. Und etwas rumorte in ihm. Zerrte und riss. Ein brauner Bannkreis. Ein innerer Hochdruck. Park Marcinkowskiego.
Ein Tier wohnte in ihm, das ihn zwang, sich zu bewegen. Es gab kein Zurück. Er musste hinaus. Wurde hinausgedrückt. Einsamer Ausländer in der harten polnischen Nacht.
Er harrte noch aus, indem er den Tag Revue passieren ließ. Das munterte auf. An der Anderson’schen Effizienz gab es nichts auszusetzen. Nicht einmal die grantige Plastikkommissarin Holm, per Frauenquote aufgestiegen, würde etwas bemängeln können.
Er war kurz nach zwölf am Mittag in Poznán angekommen, nach zwei angenehmen Stunden zwischen Arlanda und Warszawa und einer wahren Horrorstunde auf dem Inlandsflug von Warszawa nach Poznán. Die rekonstruierte polnische Fluggesellschaft Lot hatte offenbar zwei Gesichter, ein Auslandsgesicht und ein Inlandsgesicht. Letzteres bescherte ihm einen jener Albtraumflüge, von denen er geglaubt hatte, sie seien mit dem Fall der Mauer Vergangenheit. Die Stewardessen waren militante Grundschullehrerinnen, die aufmüpfige Passagiere bestraften, indem sie ihnen mit dem Lineal auf die Fingerknöchel schlugen. Jede Hoffnung, ein bisschen zollfreien Wyborowa-Wodka oder Jarzebiak-Vogelbeerschnaps mitnehmen zu können, wurde zunichte. Wenn es hochkam, musste man zu den Schlägen auf die Fingerknöchel eine Dosis Rizinusöl schlucken.
Es war ein schöner Sommertag. Die Sonne war grausam, als er aus der Maschine stieg und die wenigen Schritte zum Flughafengebäude hinüberging. Es war nicht die Art von Hitzeschock, die Reisende aus nördlichen
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