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Ungeschoren

Ungeschoren

Titel: Ungeschoren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arne Dahl
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Ländern überfällt, wenn sie beispielsweise in Marokko das Flugzeug verlassen und die Lungen sich mit glühendem Gas füllen. Im Schatten war es fast ein wenig kühl. Aber die Sonne war nackt. Wie eine ganz andere Sonne, ohne alle Filter und Schutzschichten der Atmosphäre.
    Wie in Tornedalen. In Olkamangi.
    Danach konnte er für den Rest des Tages die schwedische Landschaft nicht aus dem Kopf bekommen. Die wunderschönen Kulissen vor dem Hintergrund der sprudelnden Strömung des Torne Älv begleiteten ihn auf seinen Wanderungen durch Poznán. Es war ein wenig zwiespältig. Das Kind und der Erwachsene gingen nebeneinander. Doch das hieß nicht, dass sie sich einig waren.
    Poznán war grüner und blauer, als er die Stadt in Erinnerung hatte, doch es waren nicht nur die vielen Parks und Seen, die einen anderen Eindruck entstehen ließen. In Jon Andersons Erinnerung war Poznán eine osteuropäische Industriestadt ohne Farben. Entweder ließ ihn seine Erinnerung im Stich, oder die Stadt hatte sich drastisch verändert. Da seine Erinnerung ihn nie im Stich ließ, musste die Stadt sich verändert haben.
    Poznán wirkte ganz einfach wohlhabend. Im guten Sinne repräsentativ für europäische Städte mittlerer Größe. Die Stadt hätte ebenso in Deutschland oder in Frankreich liegen können. Farben und moderne Autos. Poznán war Hauptstadt der Woiwodschaft Großpolen, in der Landschaft Wielkopolskie, und Polens fünftgrößte Stadt nach Warszawa, Kraków und Wroctaw. Und kurz vor Gdánsk.
    Poznán konnte neben Warszawa als kommerzielle Hauptstadt betrachtet werden, mit gut dreißig Banken und einer erstaunlichen Anzahl von kleinen Unternehmen. Erst vor kurzem war sie als eine der investitionsfreundlichsten Städte des ehemaligen Ostblocks eingestuft worden. Der Wohlstand hing in starkem Maß mit der jährlichen großen Wirtschaftsmesse in der gut besuchten internationalen Messehalle zusammen.
    Dass Poznán, wie ganz Polen, während des Weltkriegs schwer verwüstet worden war, sah er noch deutlich auf der Taxifahrt vom Wagenfenster aus – bis das Auto sich der mittelalterlichen Altstadt, stare miasto, näherte, von wo es, an einem weiteren Park entlang, weiterglitt und sicher beim Polizeihauptquartier landete. Angesichts der wahnwitzigen Verkehrssituation musste dies als ein kleineres Wunder eingestuft werden.
    Er betrat das nach osteuropäischen Sechzigerjahren riechende Polizeipräsidium und fand sofort, was er suchte. Die Götter waren mit ihm. Er warf seine kleine Umhängetasche über die Schulter und klopfte bei Kommissar Marek Wojcik von der Kriminalpolizei Poznán an.
    Kommissar Wojcik sah anders aus, als seine Stimme hätte vermuten lassen. Jon Anderson hatte sich einen korpulenten älteren Herrn in einem dicken Mantel vorgestellt – wie auch immer eine Stimme den Gedanken an einen Mantel hervorrufen mochte –, doch stattdessen traf er einen durchtrainierten Mann in den Vierzigern mit gepflegtem Schnauzbart und maßgeschneidertem Anzug. Der Mann wirkte nicht im Geringsten osteuropäisch. Kommissar Marek Wojcik stand auf und kam seinem jungen schwedischen Kollegen entgegen. Er sah ihn aus schönen braunen Augen fest an und sagte in gutem Englisch: »Willkommen in Poznán, Mister Anderson. Ich hatte nicht erwartet, dass Sie so –«
    »Kriminalinspektor Jon Anderson«, sagte Anderson und war sich des schlechten Timings bewusst.
    »– jung wären«, fuhr Wojcik unbeirrt fort und vollführte eine einladende Geste zu einer Art Barocksofa, das den halben Raum einnahm.
    Sie setzten sich. Der Kaffee stand bereits auf dem Tisch. Der Dampf stieg aus den Tassen. Es war verblüffend. Woher konnte der polnische Kollege wissen, dass er genau jetzt eintreffen würde?
    Wojcik las Andersons Gedanken und sagte: »Man braucht nur den Flugplan zu lesen. Bitte schön, trinken Sie in Ruhe Ihren Kaffee. Dann diskutieren wir Ihren Fall.«
    Jon Anderson trank nie Kaffee. Kaffee ließ seinen Magen rebellieren. Es war eine unerwartete und betrübliche Komplikation, nicht zuletzt weil Marek Wojcik neben ihm saß und wartete. Es gab kein Entrinnen. Er nahm einen kleinen Schluck und hoffte, dass sein Lächeln nicht allzu falsch aussah. Der nussbraune Blick nagelte ihn fest und machte den labberigen Kaffee erträglich. Aber er spürte sofort, wie sein Magen aufbegehrte. Er hoffte, den Protest mit einer Willensanstrengung unterdrücken zu können.
    »Sie hatten es eilig herzukommen«, sagte Kommissar Marek Wojcik. »Sie hätten ein wenig

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