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Ungeschoren

Ungeschoren

Titel: Ungeschoren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arne Dahl
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gegenseitigen Feindschaft wohl. Er wird bald in Pension gehen. Wahrscheinlich wird er werden wie sie, allein und gestählt und mit einem großen Bedürfnis nach Bestätigung, dass man noch lebt. Weil man es so ganz genau nicht weiß. Die Kombination von angeberischen alten Weibern und scharfkantigen Eisschollen war eine außerordentliche Bestätigung. Jetzt können sie einander für den Rest ihres Lebens ihre Existenz bestätigen.
    Am Morgen des achtzehnten Juni, eines Dienstags, waren im Långholmsbad weder nassforsche alte Weiber noch Eisschollen anzutreffen. Das Wasser hatte Lufttemperatur, und als er in die trüben Wellen stieg, war unser Pathologe nicht ganz überzeugt von seiner eigenen Existenz. Er hob ein wenig das Bein, um zumindest zu fühlen, wie die Wellenbewegung sein Bein streichelte, doch er fühlte nichts. Es war, als stünde er gar nicht im Wasser. Er hätte seinen Schwanentauchsprung ebenso gut auf dem Sergels Torg ausführen können. Es war erstaunlich, dass er nicht sogleich mit dem Schädel auf dem bleivergifteten Grund aufprallte.
    Der Pathologe hatte die Angewohnheit, unter Wasser die Augen aufzumachen – auch das als eine Art Lebensbestätigung. In der Regel sah man nichts. Was bewies, dass man sich unter Wasser befand und nicht an Land, wo es trotz allem ziemlich ungewöhnlich war, ganz abrupt von akutem grauem Star befallen zu werden. Oder eher grünem.
    Dieser Tag war nicht wie die anderen. Er sah nämlich etwas im Wasser. Weit unter der Oberfläche. Wo es immer nur trübgrün war.
    Zuerst war er überzeugt, dass es die Alte war. Dass sie da unten auf dem Grund saß, nur um ihm zu zeigen, dass sie tatsächlich auch heute wieder als Erste gekommen war. Dann sah er, dass er sich irrte.
    Als Pathologe war er ein wenig abgestumpft. Es war eine ziemlich eintönige Arbeit, und wenn man ihm heute die Möglichkeit geboten hätte, sein Leben noch einmal zu leben, würde er mit großer Sicherheit eine andere Facharztqualifikation wählen. Dennoch gab es immer wieder Augenblicke, die ihn überraschen konnten. Rein professionell. Dies war ein solcher.
    Pathologie ist die Lehre vom veränderten, besonders vom krankhaft veränderten Leben. Das hört sich so an, als wäre im Großen und Ganzen die gesamte ärztliche Kunst Pathologie. Gleichwohl wird die Pathologie instinktiv mit toten Körpern verbunden. Das dürfte darauf beruhen, dass die Forschung auf diesem Gebiet im Lauf der Geschichte der Medizin vom Sezieren ausgegangen ist. Dass man Leichen zersägt.
    Der Pathologe war, mit anderen Worten, mit toten Körpern vertraut. Aber es handelte sich hauptsächlich um kranke tote Körper. Der Mann, der ihm zwei Meter unter der Wasseroberfläche des Mälarsees von Angesicht zu Angesicht gegenüberhing, wirkte nicht besonders krank. Nur tot.
    Er streckte die Hand nach der Leiche aus und befühlte die eiskalte Haut. Er nahm eine schnelle Analyse des Zustands der Leiche vor. Bekleideter Mann um die vierzig, seit etwa zwei Tagen tot, rechtes Hosenbein abgerissen, Todesursache ein großes Loch im Kopf.
    Die Leiche trieb herum, langsam, aber eindeutig, wie ein Astronaut in schwerelosem Zustand. Er sah einen kleinen schwarzen Fleck, der sich gegen die kreideweiße Haut in der rechten Kniebeuge abzeichnete. Und er sah, was es war.
    Dann ging ihm die Luft aus.
    Er war immerhin fünf Kilometer gejoggt.
    Der Pathologe kam an die Wasseroberfläche und schwamm zum Strand des Långholmsbads zurück. Als er näher kam, sah er eine Gestalt am Strand. Eine krumme, aber starke Gestalt in großgeblümtem Badeanzug.
    Auf dem Weg zur Telefonzelle ging er an ihr vorbei und sagte: »Es ist wunderschön im Wasser. Nur hinein.«

21
     
    Die Tomtebogata war wirklich ein Idyll. Ein Gartenzwergidyll. Sie lag wie ein kleines Universum eingeklemmt ungefähr in der Mitte von Vasastan und machte nicht viel Aufhebens von sich. Sie schien ganz einfach mit sich selbst zufrieden zu sein, so, wie sie war. In aller Anspruchslosigkeit.
    Die Stadt erwachte nach und nach. Auch an diesem Dienstag fielen aus Osten, von den Durchfahrtsstraßen Torsgatan und Sankt Eriksgatan, milde Sonnenstrahlen ein und unterschieden sich nicht sehr von denen am Montag. Es war wieder ein sehr ruhiger, schöner Morgen in Stockholm.
    Sie gingen zu Fuß. Das taten sie fast immer und überall, und sie hatten sich beide erst daran gewöhnen müssen. Anders war trotz seiner ländlichen Wurzeln bisher nicht viel zu Fuß gegangen. Es hatte lange gedauert, ihm abzugewöhnen,

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