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Ungeschoren

Ungeschoren

Titel: Ungeschoren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arne Dahl
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acht Stunden am Tag Fernsehspiele zu spielen, und ihm dann beizubringen, dass er sich aus eigener Kraft fortbewegen konnte. Kerstin ihrerseits war zu der Einsicht gelangt, dass die Kraft der Endorphine, dieser durch die Körperbewegung selbst produzierten Droge, nicht viel schwächer war als künstliche Drogen. Wahrscheinlich war es für sie schwieriger gewesen, sich das Joggen abzugewöhnen, als für Anders, sich das Fernsehspielen abzugewöhnen.
    Ob sie Anders mit dem Kompromiss Spaziergänge wirklich auf halbem Weg entgegengekommen war, blieb eine offene Frage. Wahrscheinlich lagen schnelle Spaziergänge durch die Stadt doch näher am Joggen als an Fernsehspielen.
    Sie betraten den Eingang des schönen Hauses aus der Jahrhundertwende und fanden im dritten Stockwerk die richtige Tür. Auf dem Briefschlitz stand ›Åkesson‹.
    Motiv und Möglichkeit, dachte Kerstin Holm, während sie klingelte. Die guten alten M. Möglichkeit bestand – eine Möglichkeit, die sich unversehens aufgetan hatte und sie hoffentlich von einem schwer zu meisternden, aber selbst verschuldeten Dilemma befreien würde. Mit dem Motiv war es heikler. Natürlich das äußere: ihren eigenen und Anders’ Sommer zu retten. Aber gab es nicht ein lästigeres, tiefer liegendes inneres Motiv? Einen blauen Bannkreis …
    Sie hatte den starken blauen Blick vor Augen, als sie hinter der Tür Schritte nahen hörte.
    Und der zersprang und fiel in Scherben zu Boden.
    Sie zerschnitt sich die Füße an den Scherben eines klarblauen Bannkreises.
    Eine üppige Blondine um die dreißig öffnete und sah sie fragend an. Über den wenigen bedeckten Teilen ihres gebräunten Körpers trug sie eng anliegende Joggingsachen.
    »Ja?«, sagte sie.
    Ja? dachte Kerstin Holm. Ihr Gesicht hing kraftlos auf Höhe der Knie. Sie bückte sich und zog es hoch.
    Das verlorene Gesicht.
    »Ist Bengt da?«, fragte sie mit einem Lächeln, das dementsprechend schief sein musste.
    »Ja, klar«, sagte die Blondine unbekümmert. »Ich war gerade auf dem Weg.«
    Dann wand sie sich an dem Paar im Hausflur vorbei und lief mit lockeren Schritten die Treppe hinunter.
    Kommissar Bengt Åkesson kam aus der Küche und sagte:
    »Hej, kommt rein.«
    Sie folgten ihm in ein schönes Wohnzimmer. Alles sehr sauber und ordentlich.
    Auf einem Sofa saß ein neunjähriges Mädchen mit scharfem blauen Blick. Anders sah sie erstaunt an.
    »Das ist Vera«, sagte Åkesson. »Und das hier ist Anders.«
    Die Kinder vermieden es sorgfältig, einander zu grüßen. Und alles war gut, und alles war schrecklich.
    »Und hier ist Veras Oma Klara«, sagte Bengt Åkesson.
    »Kerstin und Anders.«
    Sie begrüßten sich über kreuz.
    »Oh, ihr werdet euch bestimmt gut verstehen«, sagte Oma Klara im Norrlanddialekt. »Vera hat sich ein bisschen einsam gefühlt, seit keine Schule mehr ist.«
    Vera warf ihrer Oma einen bösen Blick zu und stöhnte.
    Peinlich.
    Anders sah nur verwirrt aus.
    Kerstin beugte sich zu ihm hinunter. »Meinst du, dass es klappt hier mit euch beiden?«
    Anders nickte, ohne zu zögern.
    »Willst du ins Präsidium?«, fragte Bengt und zog sich seine ewige Jeansjacke über.
    Sie nickte und drückte Anders.
    Im Flur fasste sie sich ein Herz und sagte mit gezwungener Lockerheit: »Hast du nicht gesagt, du wärst alleinstehend?«
    Bengt Åkesson schickte ihr seinen blauen Blick. Machte eine unangenehme Pause, um sie zu beobachten. Sie spürte, dass die Nähte sehr deutlich waren. Die ein kürzlich verlorenes Gesicht verrieten.
    »Vickan?«, sagte Åkesson.
    Natürlich, dachte Kerstin Holm. Vickan. Was sonst?
    »Wenn sie so heißt, ja«, sagte sie.
    »Wir wohnen nicht zusammen«, sagte Åkesson. »Vickan würde nie auf die Idee kommen, sich auf ein Alltagsleben einzulassen, schon gar nicht mit Kindern.«
    »Und was macht ihr dann zusammen?«
    Die verdammte Zunge, auf die man sich immer zu spät beißt …
    Bengt Åkesson antwortete amüsiert: »Wir haben Sex.«
    Es wird ein langer Tag werden, dachte Kerstin Holm und holte zum zweiten Mal ihr Gesicht von den Kniescheiben zurück.
     
    Als sie in ihr Büro trat, steckte ein Fax im Faxgerät. Eine Anzahl von Buchstaben in vierundzwanzig Punkt Garamond: ›Denkt an Yasser Askar.‹ Sie betrachtete es eine Weile. Dann klopfte es an der Tür.
    Sie legte das Fax zur Seite und rief: »Herein.«
    Ein Hundertfünfzigkilohausmeister bugsierte eine Sackkarre mit einem großen Karton ins Zimmer. »Haben Sie den hier angefordert?«, fragte er und kratzte sich mit einem

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